Dax Werners Debattenrückspiegel KW 16
Liebe Leser:innen,
im wievielten Monat des Semi-bis-Voll-Lockdowns befinden wir uns gerade? Die Älteren unter uns erinnern sich noch an die Bund-Länder-Konferenzen-Phase der Pandemie, kurz nach der Bananenbrot- und Tiger-King-Phase. Sie gaben Halt, Orientierung und ein Rest von Zeitgefühl, man konnte sich bei der Rekonstruktion der vergangenen Monate gut an diesen Phasen entlanghangeln, so wie ich als kleiner Bub meine Schuljahre den Fußball-Stars auf dem Cover der jeweiligen FIFA-Ausgabe zuordnete. Wie viele andere habe jedoch auch ich zugegebenermaßen vollkommen Überblick verloren, muss jede Woche für diese Kolumne literally ergoogeln, welche Kalenderwoche wir eigentlich schreiben und registriere lediglich sowohl eine extrem angespannte Stimmung im Internet als auch bei denen, um die es wirklich geht: Den Menschen da draußen.
So sind es vielleicht nicht die allerbesten Voraussetzungen für jede noch so durchdachte wie originelle satirische Video-Aktion, wenn Aufnahmebereitschaft und Ambiguitätstoleranz des Publikums gerade eh schon gegen Null gehen. Oder ist vielleicht exakt das Gegenteil wahr und Deutschland brauchte die #alles dichtmachen-Initiative einiger "mehr oder weniger bekannter Schauspieler:innen" (Marietta Slomka ungewohnt hämisch im "Heute-Journal") mehr denn je?
Eine Sache, in der ich mir jedenfalls ziemlich sicher bin: Wir dürfen die A-Liga-Schauspieler:innen dieses Landes, die ihre durch Schnelltests und Hygiene-Auflagen, wie etwa der verpflichtenden Nutzung von Plastikbesteck, möglich gemachten Filmdrehs gerade ziemlich einsam in ihren lichtdurchfluteten Altbauwohnungen verbringen, nicht vergessen; wir müssen uns klarmachen, was es mit diesen Menschen gemacht hat, als wir uns im letzten Jahr einige Wochen lang verabredeten, vom Balkon aus Applaus zu spenden. Jedoch nicht ihnen, den sensiblen Magier:innen der Leinwand, sondern – allen Ernstes! – dem Pflegepersonal, das im Grunde genommen einfach nur seinen Job runterspulte.
Das Öl des 21. Jahrhunderts ist bekanntlich Aufmerksamkeit und für die Menschen, die uns Woche für Woche mit immer neuen fantasievollen Folgen "Tatort", "Polizeiruf 110" und "Rosenheim Cops" versorgen, ist gerade 1973, nämlich: Ölkrise. Auch das gehört zur Wahrheit dazu und sollte im Debattenraum mitgedacht werden.
Doch in Zeiten immer engerer Meinungskorridore gilt man ja schon als "rechts", wenn man nur das schwäbische Querdenken-Krakele einiger pensionierter Lehrerehepaare aus dem Großraum Stuttgart wiederkäut und der avantgardistische Techno-Protest des Mit-Initiatoren und Filmregisseurs Dietrich Brüggemann ("Steckt Euch die Tests in den Arsch!") den Soundtrack liefert, zu dem in Berlin und Kassel Journalist:innen verprügelt werden. Debattenkultur bizarr! Dachte sich auch CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet, der sich am Freitag zu diesem Thema in die NDR-Talkshow "3 nach 9" äußerte und sich schützend vor die Missverstandenen stellte ("Diese Kritik muss möglich sein!"), während sich zeitgleich zahlreiche Schauspieler:innen genötigt sahen, ihre Videos zurückzuziehen. Diagnose: Vorauseilende Cancel Culture!
Der in meinen Augen spannendste Aspekt der Aktion ging in diesem diskursiven Wirrwarr selbstverständlich völlig unter: Dass sich nämlich Jan Josef Liefers über die neue angebliche Untertanen-Mentalität derjenigen Deutschen beschwert, die im Drosten-Brinkmann-Lauterbach-Rausch jeden noch so irren Lockdown abnicken würden, nachdem sich genau jener Liefers seit 20 Jahren als Ulk-Rechtsmediziner Boerne im Kult-Tatort Münster darum verdient macht, Polizei und staatliche Autorität vollends zu teddybärisieren.
Aber vielleicht ist das ja Stoff für eine Kunstaktion an einem anderen Tag.
Performative Grüße: Dax Werner
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