Aus Eugen Egners Püppchenstudio
Bruder und Schwester
In einem anderen Leben war ich ein minderjähriges Geschwisterpaar, bestehend aus Bruder und jüngerer Schwester (Namen unbekannt). Es war auf Dauer sehr anstrengend für mich, zur selben Zeit zwei Personen sein müssen, deshalb konzentrierte ich mich, wie ich gestehen muß, mehr darauf, die Schwester zu sein. Sie war von grüblerischem Wesen und zog stets ein mürrisches, wo nicht grimmiges Gesicht. Die meiste Zeit verbrachte sie lesend, schreibend und dem Leben Vorwürfe machend. Zudem litt sie unter der Angst, ein riesiger, in einer Gartenhütte nur unzureichend verwahrter Jungvogel aus einem ihrer Träume könne sie jederzeit fressen. Von daher war sie mir, das heißt meinem Wesenskern, wesentlich verwandter als der so offenkundig an Welt und Technik interessierte Bruder. Der reiste schon in jungen Jahren zur Frankfurter Automobilmesse, oblag dem Modellbau und besaß eine elektrische Eisenbahn – alles nichts für mich. Am ähnlichsten waren sich mein Schwester- und mein Bruder-Ich, wenn sie lesend nebeneinander am Wohnzimmertisch saßen. Beide beugten wir dann unsere bebrillten Gesichter über die Blätter der Journale. Durch einen strohhalmdünnen Schlauch tranken wir die Weisheit der Schrift, die sich nicht allein über die Augen erschloß. Welche Informationsmengen meinem zentralen Bewußtsein dadurch zugeführt wurden, kann sich niemand vorstellen. Früher oder später mußte die völlige Überlastung eintreten.
Zu der Zeit, als die Schwester zur Tanzschule und der Bruder zum Militärdienst sollten, war es endgültig soweit. Unausweichlich kam der Tag, an dem das Faß überlief. Mein Schwester-Ich schwang sich, immer vierschrötiger werdend, vor der Wohnzimmer-Schrankwand zu einer klumpigen Ekstase auf, und mein Bruder-Ich sprang bellend an die Decke. Das hätte jemand photographieren müssen!
Unsere Mutter brachte uns zur Graafschen Heilanstalt. Diese Heilanstalt, die vielleicht gar keine war, sondern etwas Geheimes und Monströses, füllte die Etagen sämtlicher Häuser einer Straße in Bahnhofsnähe. Durch eine so einfache wie geniale Maßnahme, bei der eine kleine Gummipuppe zum Einsatz kam, konnten die Geschwister zum Abklingen gebracht werden. Was übrigblieb, war ein Strunk von einem Einzelbewußtsein, das sich gut zum Kuchenessen und Schlafen eignete.
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