Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Was gesagt werden muß
Die Ära Merkel geht zu Ende, lese ich, und darüber müssen sich alle freuen, die wie Wolfgang Streeck, Professor für Soziologie und emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, seit Jahren wider die Postdemokratie anreden; denn „die Demokratie, wie wir sie kennen, ist auf dem Weg, vom Kapitalismus abgetrennt und um seinetwillen auf eine Kombination von Rechtsstaat und öffentlicher Unterhaltung reduziert zu werden“, wie Streeck in seinem lesenswerten, hier schon zitierten Band „Die gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ 2015 zusammenfaßte.
Wie groß also Streecks Erleichterung, daß es mit Merkels marktkonformer Nichtpolitik zu Ende geht, und so riesig ist sein Braß auf das „System Merkel“ als „postdemokratische Reduzierung von Strategie auf Taktik von einer politischen Klasse, die ihre Regierungsfunktion an den globalen Markt und die europäische Technokratie abgetreten hat“, daß die FAZ nicht anstand, eine ganze erste Feuilletonseite dafür freizuräumen: „Auf dem Gipfel ihrer Macht, getragen von der ,Willkommenskultur’ und einer so angsterzeugten wie -verbreitenden Gleichschaltungsbereitschaft der politischen Klasse, regierte Merkel wie eine Monarchin … In der substanzentleerten und sentimentalisierungsbedürftigen deutschen Postdemokratie dagegen konnte Merkel für ihre Grenzöffnung den Sonderstatus einer ,Hier stehe ich, ich kann nicht anders’-Entscheidung beanspruchen … Dauertest einer demokratischen Öffentlichkeit auf ihre Fähigkeit und Bereitschaft hin …, unter laufender Opferung ihres Intellekts immer neue Absurditäten zu glauben oder wider besseres Wissen zu bekennen – etwa die Behauptung der Regierungschefin, man könne Grenzen heutzutage nicht mehr schließen ... Wenn eine Öffentlichkeit wie ein Tanzbär am Nasenring regierungsamtlicher Wahrheiten durch die Manege gezogen wird und sich ziehen läßt … Diejenigen, die sich im Herbst 2015 zu einer Einheitsmedienlandschaft zusammengefunden hatten, die bei Strafe moralischer Exkommunikation nicht so genannt werden durfte … Antifa als politische Bazooka … Merkels germanozentrische ,Flüchtlingspolitik’, ohne Vorwarnung der Partnerländer überfallartig ins Werk gesetzt, hat den Ausgang des Brexit-Referendums mitverursacht und die Ablehnungsfront der Ostländer konsolidiert … willigste Medienmaschine … regierungsamtlicher Antifaschismus …“
„Nur so ist allen […] und letztlich auch uns zu helfen.“ Grass, 2012
Man kann der substanzentleerten und sentimentalisierungsbedürftigen deutschen Postdemokratie ja viel vorwerfen: daß sie immer mehr Leute, auch Kinder, verarmen läßt und die Zahl der Wohnungslosen einen neuen Höchststand erreicht hat; daß immer mehr Menschen in Prekärjobs arbeiten und im Alter noch dümmer dastehen werden als jetzt schon; daß es eine Zweiklassenmedizin und eine Zweiklassenbildung gibt und die Armen dumm bleiben und früh sterben; daß sie der Industrie bei jeder Gelegenheit in der Arsch kriecht und gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen kaum mehr als das Nötigste unternimmt; daß sie Waffen an Despotien verkauft, mit subventionierten Nahrungsmitteln aus brutalisierter Landwirtschaft die Dritte Welt überschwemmt und sich eine willigste Einheitsmedienmaschine hält, die das und die verwandten Absurditäten für eine wunderbar funktionierende Marktwirtschaft im besten Deutschland aller Zeiten hält. Daß ihr größtes Problem hingegen der Flüchtling sei, der einer Welt zu entkommen versucht, für die dieses Deutschland Tag für Tag einsteht, oder Einheitsmedien, die wenigstens manchmal versuchen, dem anti-antifaschistischen Affen des demokratischen Souveräns nicht mehr Zucker zu geben als unbedingt nötig, und daß die Überwindung deutscher Postdemokratie bedeuten soll, daß nicht etwa über den Widerspruch von Kapital und Demokratie und eine Zukunft für alle geredet werde, sondern über Kanaken: ich bin begeistert.
Mit Rechten reden? Ich muß sie lesen, das genügt.
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