"Jetzt nicht unter die Räder kommen" – das mutige Leben nach dem Terror in Berlin
Berlin – Eine Stadt liegt in Trümmern, kämpft mit der Verzweiflung und dem Elend. Doch von dem LKW-Anschlag geben sich die Berliner unbeeindruckt. Fast scheint es, als sei das Brumm-Attentat in der Stadt gar nicht geschehen. Statt sich einzuschließen und nie wieder einen Fuß vor die Tür, geschweige denn in den nächsten Rewe zu setzen oder schreiend mit ringenden Händen durch die Straßen zu rennen, gehen die allermeisten Berliner ganz normal ihrem Alltag nach.
Inge M. flippt sich gerade ein paar Pillen ins Maul, als wir ihn am Kottbusser Tor treffen. Mit seinem viel zu kleinen Frack, der zerlöcherten Leggins und den ausgelatschten Cowboystiefeln könnte er fast als prototypische Berlinerin durchgehen. Angst habe er schon, gesteht Inge. Alles andere wäre bei seinem Konsum auch "ein krasses Wunder". Während er im Handstand auf einem Longboard die Straße hinunterfährt, berichtet er, daß er später noch auf den Weihnachtsmarkt wolle, gerade jetzt natürlich, wo die Drogen so schön reinballerten. "Das Feeling ist einfach unglaublich, wenn du da, einen Glühwein in der Rechten, einen fremden Penis in der Linken, zwischen den Ständern, Pardon, Ständen durchgehst. Alles sieht total glitzernd erleuchtet aus! Und es riecht wie in einem brennenden Zuckersilo, wa?"
Es sind Worte, die Mut machen in dieser düsteren Zeit, in der die Sonne oft schon gegen 14 Uhr hinter der Skyline verschwindet. Berlin läßt sich nicht unterkriegen, allen solaren Kapriolen zum Trotz. "Ich bin knapp mit dem Leben davongekommen und steh heute trotzdem hier am Späti und ziehe mir ein Sterni nach dem anderen rein, wa?" fragt Charline T. Die gebürtige Pforzheimerin habe kürzlich noch überlegt, sich für diese Woche mit Freunden auf irgendeinem Weihnachtsmarkt zu verabreden, bis ihr wieder eingefallen sei, daß sie ja gar keine Freunde habe. "3,5 Millionen People und trotzdem all alone. Das ist die Großstadt, Baby!" bluest sie und wickelt sich selig um einen Laternenpfahl. Daß sie dem Tod so knapp von der Schippe gesprungen sei, gebe ihr jetzt Kraft, gibt sie uns mit auf den Weg, einfach noch viel mehr zu rauchen und zu trinken. "Natürlich nicht so viel, daß ich abhängig werde. Gesundheit geht vor, logo!" verabschiedet sie sich und schwingt sich samt Fahrrad und Yogamatte ins Schaufenster der nächsten Popup-Store-Manufaktur. Kaltschnäuzigkeit zeichnet sie aus, die Berliner. Und zwar ausnahmsweise mal metaphorisch, im Umgang mit dem Terror, statt wie in solchen Ausgedacht-Reportagen sonst üblich – als wörtlich genommene Redewendung – wegen der winterlichen Temperaturen.
Inge M. liegt inzwischen auf der Intensivstation der Charité. Bei einem doppelten Looping mit dem Skateboard geriet er "in die Schußlinie eines Transformers", wie er uns glaubhaft versichert. Den Kopf wolle er deshalb noch lange nicht hängen lassen, das ginge aktuell auch überhaupt nicht wegen der Halskrause und des Ganzkörpergipses. Dann döst Inge wieder weg. Doch gibt es sie wirklich? Ist sie nicht nur eine allegorische Beschreibung Berlins? Vielleicht! Sicher aber läßt sich sagen: In dieser Stadt leben Menschen, die Dinge tun und damit nicht wegen einer Truck-Attacke aufhören. Die Straßen jedenfalls sind voller Menschen. Die meisten von ihnen sind Journalisten auf der Suche nach einer pfiffigen Reportage.
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