Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Unvorstellbar
Ich mag die Bild nicht lesen, manchmal aber eben doch, denn es gibt die Kopie, und es gibt das Original: „Schluß mit Roaming-Abzocke“, „Die russische Regierung ist massiv verstimmt“, „Sibel Kekili, die frühere Porno-Darstellerin“, die es sowenig mehr ist wie Michaela Schaffrath, es aber auf dem Boulevard ebenso ein Leben lang bleiben wird. Und daß es in Bonn noch Ministerien gibt, wo man doch eine so tolle Hauptstadt hat und die ständigen Dienstreisen im laufenden Jahr die phantastische Summe von 7,7 Millionen Euro verschlingen (um diese Summe wächst die deutsche Staatschuld in nicht einmal fünf Stunden), geht natürlich gar nicht: „Wie ein besonders drolliger Ausdruck dieser Stimmungslage“, nämlich der von damals, als die Splitting-Entscheidung fiel, „mutet im Rückblick an, daß ernsthaft gestritten wurde, ob Berlin Sitz von Regierung und Parlament werden sollte. Die Entscheidung fiel denkbar knapp aus; heute wäre das unvorstellbar.“
„Wir spielen immer nur dasselbe / Wir spielen immer nur dasselbe / Du sagst das wär zwar nicht das Gelbe / Doch wir spiel'n immer nur dasselbe / Und wenn wir damit fertig sind / Dann spiel'n wir's gleich noch mal von vorn // Bei anderen Gruppen, da wechselt der Schlagzeuger manchmal den Takt / Das gibt's bei uns nicht / Das wär' für uns ein viel zu großer Akt“ Rodgau Monotones, 1988
Denn heute sind wir weiter, und was damals noch erst anfing: die Liebe zum Vaterland und seinen Symbolen, steht heute, „25 Jahre nach dem Fall der Mauer“, in voller Blüte. Natürlich war der Entschluß, das Parlament nach Berlin zu verlegen, einen Teil der Regierung aber in Bonn zu lassen, ein verdruckstes Zugeständnis an alle, die in Bad Godesberg ihr Häuschen gebaut hatten, aber es war auch ein letzter Vorbehalt gegenüber dem Großen, Zentralen, darin notwendig Autoritären, insgesamt: Nationalen. „Mit dem Namen Bonn“, warb der Bonner Blüm für den Nicht-Umzug, „verbindet sich der längste freiheitliche und friedliche Zeitabschnitt unserer Geschichte“, und was sich, militärpolitisch gesprochen, mit dem Namen Berlin verbindet, muß hier nicht noch mal ausgeführt werden. „Es geht heute nicht um Bonn oder Berlin“, hielt derselbe Wolfgang Schäuble, der 23 Jahre später den russischen Staatspräsidenten mit Hitler vergleichen würde, dagegen, „sondern es geht um unser aller Zukunft, um unsere Zukunft in unserem vereinten Deutschland, das seine innere Einheit erst noch finden muß, und um unsere Zukunft in einem Europa, das seine Einheit verwirklichen muß, wenn es seiner Verantwortung für Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit gerecht werden will.“ Die Verantwortung für den Frieden hat längst der Kriegshetzer Gauck übernommen, „soziale Gerechtigkeit“ bedeutet praktisch gar nichts mehr und „Freiheit“ unterm Banner von Minijob und Leiharbeit bloß die Freiheit, zu sehen wo man bleibt. Die Einheit Europas, immerhin, ist verwirklicht, als antikommunistisch-antirussische unter deutscher Führung, während der deutsche Bürger Sarrazin liest und das Geld, das die deutsche Exportwirtschaft Europa abpreßt, in Manufactum-Gartenmöbel, Kleinkind-Weltreisen oder ähnlich hilflose Selbstverwirklichungsversuche stopft.
Damals war das vielleicht nicht unvorstellbar, aber die „Stimmungslage“ noch längst nicht so „massiv“ geschlossen wie heute, wo die Leut', von derlei Orwellschem Knalldummdeutsch beharkt, schon gar keine Worte mehr haben für das, was ihnen falsch vorkommen könnte. Daß es so kam und daß es so bleibe, dafür sorgte und sorgt der Boulevard, der längst nicht mehr nur Bild heißt. Sondern, man hat's geahnt, auch Süddeutsche Zeitung.
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