Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Mehrheitsgesellschaft m.b.H.
Dies wußte die Frankfurter Allgemeine gestern zu berichten: daß vegan zwar Trend sei, der Fleischkonsum in Deutschland aber nur minimal zurückgegangen. 2014 sei gar ein „Rekordjahr für Schlachtbetriebe“ gewesen. „Aus dem Widerspruch zwischen verbreitetem Ideal und nüchterner Statistik läßt sich ablesen, daß Prenzlauer Berg, Kinderzimmer und Talkshows nicht repräsentativ sind.“ Vor einer knappen Woche war in der FAZ, gewissermaßen vorbereitend, zu lesen gewesen, deutsche Landwirte fühlten sich „kriminalisiert“ und als „Sündenböcke der Nation“: „Sie gelten als Umweltsünder, ihre Kinder werden in der Schule als Tiermörder beschimpft“, und das, obwohl laut Umfragen neun von zehn Deutschen erklärte Nichtvegetarier sind.
Also: Das Land frißt Fleisch wie nicht gescheit, aber auf dem platten Land (und eben nicht in Prenzlauer Berg) werden Bauernkinder zu Kindern von Tiermördern, und wie das alles miteinander zusammenhängt, wußte FAZ.net-Nutzer Thomas Wiesengrund (!) unterm Bericht von gestern: „Das Motto ,Leben und leben lassen’ ist der neuen Generation gutmenschlicher ,Meinungsbildner’ zutiefst verhaßt. Denn man will es nicht nur besser wissen, nein, man will dies auch anderen mit allen Mitteln aufzwingen. Freiheit verstehen Gutmenschen regelmäßig als Freiheit zur Gängelung von Menschen mit anderer Meinung und anderer Lebensart. Mit religiösem Eifer wird die eigene Lebensart als die allein seligmachende ,verkauft’ und das eigene Ich zum uneinholbaren Über-Ich glorifiziert.“ (Lesbarkeit durch Verf. hergestellt.)
„Es gibt die Mehrheit, und es gibt die Minderheit. Die Mehrheit ist stark, und die Minderheit ist schwach. Es gibt Leute, die sagen, daß die Mehrheit immer unrecht hat. Diese Leute sind in der Minderheit.“ Gärtner, 2012
Alles der übliche, als PC-Kritik verkleidete paranoide Wahn, der nur dann keiner wäre, wenn es in Prenzlauer Berg denn Bauernkinder gäbe und nicht neulich erst eine launig korrektheitskritische „Spiegel TV“-Sendung Vegetarier in die Nähe von Esoterik und Hitler gerückt hätte. Rund wird das alles erst, wenn wir annehmen, daß sich Mehrheit und Minderheit so zueinander verhalten, wie das Mehrheiten und Minderheiten in der Klassengesellschaft tun: nämlich so, daß die Mehrheit die Minderheit haßt, aber nur die, die für den Haß erreichbar ist. Das Bauernkind – oder, falls die Tiermördergeschichte gar nicht stimmt und bloß eine antikorrekte Projektion ist: der Veganer – ist leicht hassen, wo die Minderheit, die zuerst einmal hassenswert wäre, in der Bunten als „Society“ firmiert, und es ist erstaunlich, wie blind man mittlerweile in die Welt langen kann, und immer stößt man aufs F-Wort.
Denn so geht Faschismus: daß die Masse die harmlose Minderheit haßt, weil jene zu ohnmächtig (und zu dumm) ist, die Verhältnisse zu hassen, die sie ohnmächtig und dumm macht. Statt vorm Juden und seiner Weltverschwörung auszuspucken, könnte man's ja vor Deutscher Bank und Springer tun, und das zivilisationskritische Mütchen, statt am Landwirt und seinen Methoden, vielleicht am Wettbewerbsprinzip kühlen, dem sie sich verdanken. Aber das fällt aus, weil es Herrschaften gibt, die davon profitieren, daß man es nicht besser weiß (wie z.B. der feine Herr Dr. Burda, den sie zum Geburtstag jetzt alle so servil als Feingeist feiern), und weil gerechter Haß ja auch Selbsthaß sein müßte, auf sich als Profiteur und Passat-Fahrer und Vorgartenbesitzer und Manufactum-Kunde, dessen Welt das Ressentiment benötigt, soll sie nicht auseinanderfallen.
Und darum leben wir, wie's ausschaut, vielleicht in einem Rechts-, in jedem Falle aber in einem Selbstgerechtsstaat, in dem jeder die Gründe kennt, aber keiner den Grund. (Glückwunsch, Dr. Burda.)
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