Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Hirn, einmal aussetzen
Das ist alte Leier: daß Kritik im freiheitlich demokratischen Medium sich stets dem Verdacht aussetzt, Pseudokritik zu sein, Kritiksimulation, weil sich unterm Generaldiktat von Kaufen und Verkaufen, Wettbewerb und Konkurrenz das Wesentliche gar nicht ändern kann. Weil sich im freiheitlich demokratischen Medium das Wesentliche auch nicht ändern soll, geht auch Kritik an Umständen, so nötig sie im Einzelfall sein mag, immer wesentlich daneben, ja zementiert durch das sog. Aufzeigen von Mißständen den Glauben, daß am wesentlichen Mißstand: daß nämlich Ausbeutung herrscht des Menschen durch den Menschen, nicht gerüttelt werden müsse.
Diese dialektische Mühle kann sich freilich sparen, wer seine Informationen über „Spiegel online“ bezieht, wo das Geschäft, Affirmation kritisch zu verpacken, auf unvergleichlich professionelle Weise betrieben wird. „Billig-Shopping bei Primark: ,Da setzt das Gehirn aus’“, meldet eine Überschrift, die, weil derlei Journalismus von der Benutzerfreundlichkeit lebt, die Pointe vorwegnimmt: Wer bei Primark Billigshopping betreibt, das auf unverhohlener, allseits bekannter, in „Spon“-Terminologie: drastischer Ausbeutung beruht, ist nur vermindert bis gar nicht schuldfähig, weil sein Gehirn vorher ausgesetzt hat.
„Mensch, werde wesentlich!“ Angelus Silesius, 1675
„Sie trinkt Bio-Wein, kauft CO2-verträgliche Trinkflaschen und näht ihre Vorhänge selbst: Eleonora Pauli“, die Autorin, „achtet auf Nachhaltigkeit – wie viele Großstädter. Doch bei Mode hört die Moral auf. Warum? Ein Besuch in der Primark-Filiale am Berliner Alexanderplatz.“ Wo die beinharte Recherche natürlich das ergibt, was wir uns haben denken können: Es ist nicht egal, aber. „Draußen, auf den Stufen vor der Primark-Filiale, sitzen Frida, Anna und Lena, Gymnasiastinnen aus Rostock, zwischen anderen erschöpften Primark-Kunden. Neben ihnen ihre vollgepackten Tüten. Gegenseitig präsentieren sie sich ihre neuen T-Shirts und machen Selfies. Lena wollte eigentlich gar nichts kaufen. ,Dann sah es aber leider zu gut aus, und ich habe einen zu schwachen Willen’, sagt sie und wühlt in der pappfarbenen Papiertüte: ein Parka, eine Tasche, eine Strickjacke – für insgesamt 34 Euro. ,Bei Primark gehst du rein, siehst die günstigen Preise, und da setzt das Gehirn aus’, sagt Frida … Der Kick: Man bekommt sehr viele Einzelteile für sehr wenig Kohle – und kann dementsprechend sehr oft shoppen gehen. Ein Foto darf die Autorin von den Rostocker Mädels aber nicht machen: ,Mit den Primark-Tüten? Lieber nicht, ist peinlich!’“ Zirka so peinlich, wie sich als Autorin des Netzablegers von Deutschlands legendärstem Nachrichtenmagazin von sämtlichen hochsprachlichen Ansprüchen da zu verabschieden, wo Mädels mit ihrer Kohle dafür sorgen, daß in Bangladesh die Feuer nicht ausgehen.
Daß wir alle kleine Sünderlein sind: geschenkt. Daß, letztlich, „korrektes“ Leben, wenn es sich denn durchhalten läßt, nur das Trugbild von der „Konsumentendemokratie“ malen hilft (grad wo es schlicht Lifestyle ist): auch geschenkt. Aber unterm kritischen Mäntelchen das vulgärkonsumistische Kaufverhalten unserer Gymnasiastinnen zu salvieren, für die der Einkauf bis zur Erschöpfung, weil gratis, zum Freizeitvergnügen wird: igitt. Indes freilich nötig, damit es „weiter, immer weiter“ (Kahn) gehe und die frohe Botschaft eine Handbreit drunter: „Die Deutschen frönen der Lust am Shoppen: Die Umsätze im Einzelhandel sind im Juni stark gestiegen“ nicht etwa getrübt werde. Und sei's durch irgendwelche Hirnreize.
PS. Apropos „Spiegel online“ bzw. würg: „Semesterferien: So paßt die Auszeit in den Lebenslauf“. Sie nennen es Freiheit. Kein Hund möchte so leben.
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