Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Europäische Werte
„Scham und Ratlosigkeit“ diagnostiziert meine Morgenzeitung, nachdem abermals Menschen, die nicht gern waren, wo sie herkamen, und vor Krieg und Elend nach Lampedusa fliehen wollten, dutzendweise im Mittelmeer ersoffen sind, außerdem „Fassungslosigkeit“, wie „Europa“ nachgerade „hilflos“ sei, und der fassungslose Leser war ausnahmsweise fast dankbar für den allzeit tremolierenden Staatsclown Gauck, der die europäische Asylpolitik zwar nicht eben „scharf“ kritisierte (das schreiben die Esel von der Tagespresse halt reflexhaft hin, da kann ich schimpfen, wie ich will), aber immerhin von „europäischen Werten“ Mitteilung machte, mit denen, sofern da die bekannten christlich-abendländischen gemeint sind, die explizite Unbarmherzigkeit gegenüber in Not Geratenen tatsächlich nicht recht vereinbar ist. Weswegen Papst Franzl, in nomine patri, auch von einer „Tragödie“ käste.
Nun ist es vielleicht naiv, in einer Welt, in der acht Neuntel der Journaille nicht wissen, wie man das Wort „Dilemma“ korrekt verwendet, darauf zu bestehen, eine Tragödie habe mit schuldlosem Schuldigwerden zu tun, mit einem Verhängnis also, und sei so ziemlich das Gegenteil dessen, was das Ergebnis einer absichtsvollen, durch eine europäische „Agentur“ mit dem knackig-hintersinnigen Namen „Frontex“ exerzierten Grenzpolitik ist: Flüchtlinge, das ist das Credo europäischer Flüchtlingspolitik, sind nicht willkommen, per „Drittstaatenregelung“ hält sich der reiche Norden, allen voran Deutschland, das Problem vom Hals, Länder mit EU-Außengrenzen wie Italien und Griechenland können sehen, wie sie klarkommen. Einen gesamteuropäischen Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge gibt es nicht, denn nichts fürchten christlich-abendländische Politiker mehr, als ein paar tausend Negern wegen nicht wiedergewählt zu werden, und „europäische Solidarität“ gibt’s halt nach innen genausowenig wie nach außen.
„Noch denkt ein vierter, dem es wohl geht, indessen er sieht, daß andere mit großen Mühseligkeiten zu kämpfen haben (denen er auch wohl helfen könnte): was geht's mich an? mag doch ein jeder so glücklich sein, als der Himmel will, oder er sich selbst machen kann" Kant, 1786
In Italien herrscht Staatstrauer, es ist von „Schande“ die Rede, und die Rede von der Scham indiziert recht genau, daß es mit der von den Pressestellen der vierten Gewalt so eilfertig gelieferten Hilflosigkeit nicht weit her sein kann, denn schämen kann man sich bloß für etwas, das man verantwortet, und wer eine Sache verantwortet, ist ihr gegenüber weder rat- noch hilflos. Die Verantwortlichen unserer freiheitlich-demokratischen Verhältnisse, die sich eine solidarische Flüchtlingspolitik nicht leisten wollen, weil Solidarität, das hatten wir schon, unter diesen Verhältnissen unerwünscht bis unmöglich ist, sind „letztlich nur Geschäftsleute, sie richten ihr Angebot an der Nachfrage aus“ (nicht Gremliza, sondern, erstaunlich genug, der süddeutsche Leitartikel vom selben Tag), und die Nachfrage, sie sieht so aus: „Wir müssen uns sogar noch viel mehr abschotten, und zwar nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa. Und daß der Staatenbund alles tut, um ungebetene Gäste fernzuhalten, da lachen ja die Hühner“ (ein Kommentar auf „Spiegel online“). Dem Pöbel nach dem Mund reden, der verlängerte Arm des Mobs sein: das ist parlamentarische Demokratie, und europäische Werte sind allein die, die man in Frankfurt zum Tageskurs kaufen kann. „Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitano forderte derweil eine Überprüfung der Gesetze ... Die Gesetze müßten Italien würdig sein und den Grundprinzipien von Menschlichkeit und Solidarität entsprechen.“
Und mir fehlen bloß ein paar Räder, dann bin ich Omnibus.
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