Humorkritik | April 2024

April 2024

»Die Verpflichtung gegenüber der Wirklichkeit führt zu einer Art Höflichkeit ihr gegenüber. Dem Leben, wie es nun einmal ist, gebührt Respekt. … Satirische Formen, im frühen Werk Thomas Manns noch gelegentlich anzutreffen, verlieren sich im späteren Schaffen beinahe ganz. Sie sind zu unhöflich.«
Hermann Kurzke

Kuchen und Content

Literatur ist ja das sog. Eintauchen in andere Welten, und um so schöner, wenn es sich um Nebenwelten handelt. Die Erzählerin in Elias Hirschls (*1994) neuem, bereits fünftem Roman »Content« (Zsolnay) arbeitet auf einer »Content-Farm« und erstellt Listicles (»Die 13 drogensüchtigsten Filmstars«), Inhalte, die man sich als im doppelten Sinn virtuell vorstellen darf: »Auf der ersten Ebene werden die Texte an das hausinterne Graphikbüro geschickt, wo zu jedem der Listicle-Punkte ein unterhaltsames Stock-Foto eingefügt wird. Die illustrierten Artikel werden dann an die PR-Abteilung weitergeleitet, wo der Inhalt auf Massentauglichkeit, Zielgruppenrelevanz und Shareability geprüft wird, bevor er dann an die interne Prüfstelle weitergeleitet wird, wo je nach Bedarf rechtlich bedenkliche Inhalte ausgefiltert oder hinzugefügt werden. In einem finalen Überarbeitungsprozess eines weiteren Graphikbüros werden schließlich die Stock-Fotos ausgetauscht, sodass sie zum neuen Text passen. Das Endprodukt hat keinen Überschneidungspunkt mehr mit dem ursprünglichen Text. Die Wahrheit ist, dass kein einziges Wort, das ich oder Karin oder irgendjemand anderer aus unserer Abteilung schreibt, jemals veröffentlicht worden ist.«

Entfremdung im KI-Zeitalter, schon klar, aber da Entfremdung ja Entfremdung bleibt, hatte ich, gegen meine Gewohnheit, zunächst keine Schwierigkeiten mit Satire, die sich heißer Eisen annimmt. Auch handwerklich ist Hirschl, den ich im April 2018 für »Hundert schwarze Nähmaschinen« gelobt habe, nichts vorzuwerfen, von der nicht unerheblichen Tatsache abgesehen, dass die Poproman-Mischung aus Präsens und abgeklärter Verfallsdiagnose (»Die Wahrheit ist …«) für mich älteres Semester an Reiz verloren hat und Themenfelder so fruchtbar sein können, dass sich die Pointen-Ernte maschinell erledigen lässt: »Marta sagt, sie habe vor ein paar Jahren noch die ganze Is-It-Cake-Phase miterlebt – ein anderer Kuchentrend, der damals populär wurde. Verschiedene professionelle oder Amateur-Konditoren buken Kuchen, die aussahen, als wären sie keine Kuchen. Zum Beispiel gab es einen Kuchen, der aussah wie eine Billardkugel, oder einen Kuchen, der aussah wie eine Handtasche. Man filmte dann beispielsweise die Handtasche, nahm ein Messer heraus und schnitt dann ein Stück Kuchen aus der Handtasche heraus. Denn die Handtasche war in Wirklichkeit gar keine Handtasche, sondern ein Kuchen. … Einmal habe sie einen Kuchen gegessen, der sich beim ersten Biss als ein völlig anderer Kuchen entpuppte. Regelmäßig sei sie mit Mitarbeitern in der Pause am Wasserspender gestanden, und nach einigen Beschwerden, dass dieser nicht mehr funktioniere, habe man festgestellt, dass der ganze Automat ebenfalls ein raffinierter Kuchen war … Sie habe ununterbrochen auf den Kollegen neben ihr eingeredet, dass sie dieses andauernde Unwissen nicht mehr ertrage, ein zunehmendes Gefühl der Surrealität, der Entfremdung von ihrer Umwelt, der Desorientierung und Dissoziierung, die Angst, jeder Schritt könnte ein Schritt in einen Gugelhupf sein, ein Griff zum Telefon ein Griff in Ganache. Doch ihr Kollege sei stoisch geblieben, sagt Marta. … Und als Martas Hand sich schließlich um seine legte, da fühlte sie auf einmal etwas Mürbes, Klebriges an ihren Fingern, und ehe sie sich’s versah, hielt sie weinend ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte in ihrer Hand. Aus Verzweiflung habe sie ein Drittel ihres Kollegen gegessen, sagt Marta. Gleich dort, an Ort und Stelle.«

Da höre ich die Leute lachen und die Förderinstanzen lachen, mich selbst aber nicht, wie »mustergültig« ja nicht unbedingt ein Lob ist und Satire zwar dazu neigt, die Kundschaft abzuholen, es aber gerade darum vermeiden soll. Anschließend treffen wir kaputte Start-up-Typen in Industrieruinen, und wieder galt, was schon im letzten Monat galt, als ich bei Nathaniel Hills »Wellness« aufgab; denn dass Hirschls Roman sich selbst einlöst, indem er eben auch bloß Content und im tiefen Sinn »eine perfekte Romansatire« (NZZ) ist: das zu verstehen war a piece of cake.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Chillax, Friedrich Merz!

Sie sind Gegner der Cannabislegalisierung, insbesondere sorgen Sie sich um den Kinder- und Jugendschutz. Dennoch gaben Sie zu Protokoll, Sie hätten »einmal während der Schulzeit mal einen Zug dran getan«.

Das sollte Ihnen zu denken geben. Nicht wegen etwaiger Spätfolgen, sondern: Wenn ein Erzkonservativer aus dem Sauerland, der fürs Kiffen die Formulierung »einen Zug dran tun« wählt, schon in der Schulzeit – und trotz sehr wahrscheinlichem Mangel an coolen Freund/innen – an Gras kam, muss dann nicht so ziemlich jedes andere System besseren Jugendschutz garantieren?

Sinniert

Ihre Titanic

 Wir wollten, »SZ«,

nur mal schnell Deine Frage »Gedenkbäume absägen. Hinweistafeln mit Hakenkreuzen beschmieren. Wer macht sowas?« beantworten: Nazis.

Für mehr investigative Recherchen wende Dich immer gerne an Titanic

 Aha bzw. aua, Voltaren!

Das wussten wir gar nicht, was da in Deiner Anzeige steht: »Ein Lächeln ist oft eine Maske, die 1 von 3 Personen aufsetzt, um Schmerzen zu verbergen. Lass uns helfen. Voltaren.«

Mal von der Frage abgesehen, wie Du auf die 1 von 3 Personen kommst, ist es natürlich toll, dass Du offenbar eine Salbe entwickelt hast, die das Lächeln verschwinden lässt und den Schmerz zum Vorschein bringt!

Gratuliert salbungsvoll: Titanic

 Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Die Frage, weshalb Joe Biden in seinem hohen Alter noch mal für das Präsidentenamt kandidiert, anstatt sich zur Ruhe zu setzen, kommentieren Sie so: »Warum muss man eigentlich loslassen? Wenn man etwas gerne macht, wenn man für etwas lebt, dann macht man halt weiter, soweit man kann. Ich schreibe meine Bücher, weil es mir Spaß macht und weil ich nicht Golf spielen kann. Und irgendwie muss ich mich ja beschäftigen.«

Daran haben wir, Wickert, natürlich nicht gedacht, dass der sogenannte mächtigste Mann der Welt womöglich einfach keine Lust hat, aufzuhören, auch wenn er vielleicht nicht mehr ganz auf der Höhe ist. Dass ihn das Regieren schlicht bockt und ihm obendrein ein Hobby fehlt. Ja, warum sollte man einem alten Mann diese kleine Freude nehmen wollen!

Greifen Sie hin und wieder doch lieber zum Golfschläger statt zum Mikrofon, rät Titanic

 Weiter so, uruguayischer Künstler Pablo Atchugarry!

Eine angeblich von Ihnen geschaffene Bronzeskulptur im englischen Cambridge soll an Prinz Philip erinnern, der dort von 1977 bis 2011 Kanzler der Universität war. Allerdings wird das Kunstwerk, das im Auftrag eines reichen Bauträgers angefertigt wurde, von vielen als verunglückt empfunden und zieht seit nunmehr zehn Jahren Spott auf sich.

Dass Sie mittlerweile die Urheberschaft leugnen, um Ihr Renommee als Künstler zu schützen, ist zwar verständlich, aber aus unserer Sicht völlig unnötig. Wenn sich das Konzept durchsetzt, lästige Promis, die uns über Jahrzehnte viel Zeit, Geld und Nerven gekostet haben, mit langlebigen Schrott-Monumenten zu schmähen, werden Sie sich vor Aufträgen bald kaum noch retten können. Und das Beste: Weil andere Großkopferte sich mit ihren Eskapaden zurückhalten würden, um nicht von Ihnen verewigt zu werden, sorgten Sie auch noch für Ruhe und gesellschaftlichen Frieden.

Hofft, dass dieser Vorschlag einen Stein ins Rollen bringt: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Immerhin

Für mich das einzig Tröstliche an komplexen und schwer zugänglichen Themen wie etwa Quantenmechanik, Theodizee oder den Hilbertschen Problemen: Letztlich ist das alles keine Raketenwissenschaft.

Michael Ziegelwagner

 Nicht lustig, bloß komisch

Während ich früher schon ein kleines bisschen stolz darauf war, aus einer Nation zu stammen, die mit Loriot und Heinz Erhardt wahre Zen-Meister der Selbstironie hervorgebracht hat, hinterfrage ich meine humoristische Herkunft aufgrund diverser Alltagserfahrungen jetzt immer öfter mit Gedanken wie diesem: Möchte ich den Rest meines Lebens wirklich in einem Land verbringen, in dem man während seiner Mittagspause in ein Café geht, das vor der Tür vollmundig mit »leckerem Hunde-Eis« wirbt, und auf seine Bestellung »Zwei Kugeln Labrador und eine Kugel Schnauzer« statt des fest eingeplanten Lachers ein »RAUS HIER!« entgegengebrüllt bekommt?

Patric Hemgesberg

 Altersspezifisch

Ich gehöre noch zu einer Generation, deren Sätze zu häufig mit »Ich gehöre noch zu einer Generation« anfangen.

Andreas Maier

 Back to Metal

Wer billig kauft, kauft dreimal: Gerade ist mir beim zweiten Sparschäler innerhalb von 14 Tagen die bewegliche Klinge aus ihrer Plastikaufhängung gebrochen. Wer Sparschäler aus Kunststoff kauft, spart also am falschen Ende, nämlich am oberen!

Mark-Stefan Tietze

 Im Institut für Virologie

Jeder Gang macht krank.

Daniel Sibbe

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hannover, TAK Ella Carina Werner
01.05.2024 Berlin, 1.-Mai-Fest der PARTEI Martin Sonneborn mit Sibylle Berg