Humorkritik | Mai 2023

Mai 2023

»Ich habe durch mein ganzes Leben gefunden, daß sich der Charakter eines Menschen aus nichts so sicher erkennen läßt, wenn alle Mittel fehlen, als aus einem Scherz, den er übel nimmt.«
Georg Christoph Lichtenberg

Leben im Griesbrei

Wenn der bekanntermaßen von mir sehr geschätzte Wilhelm Genazino in einer Notiz vom 19. Januar 1973 festellt: »Manchmal ist mir so, als wäre ich in einem grenzenlosen komischen Raum«, dann ist das eine Aussage, die ich unterschreiben würde: Schließlich lebe ich ja in und von diesem komischen Raum, in dem Genazinos Werk wiederum einen eigenen, kleineren komischen Raum einnimmt. Dass in diesem auch die theoretische Beschäftigung mit dem Phänomen Komik Platz fand, verdeutlicht die anlässlich von Genazinos 80. Geburtstag von Jan Bürger und Friedhelm Marx herausgegebene Sammlung »Der Traum des Beobachters. Aufzeichnungen 1972–2018« (Hanser).

Der Komikpraktiker wie -theoretiker Genazino war Mitglied von Pardon und als solches auch Figur in Henscheids »Vollidioten«. Nicht verwunderlich, dass er sich in seinen Bemerkungen und Erörterungen auf die Neue Frankfurter Schule beruft und auch Ror Wolf Ruhmeskränze flicht, während er mit Robert Gernhardt überraschend hart ins Gericht geht: »Humor am Rande der Spießigkeit. Er sucht den Lacher, der allen möglich ist, die schnellstmögliche Verständigung aller mit allen. Das Ziel ist die momentweise Aufhebung aller Konflikte im allgemeinen Lachen.« Genazinos Thesen sind oft klar und einleuchtend (»Der Witz kommt immer von anderen, die Komik immer aus uns selbst«, oder auch: »Aus der Nähe ist vieles nicht mehr lustig«), mitunter aber ähnlich eigenwillig formuliert wie seine Prosa: »Wenn einer das, was ihm sein Innerkomisches anbietet, bearbeitet, in eine Form bringt, damit es erzählbar wird, dann wird daraus ein Witz«. Zum Glück bietet die Anthologie auch einiges an Beispielen dafür, wie dieses in Form gebrachte Innerkomische dann aussieht, etwa als Genazino-typische Alltagsbeobachtung angesichts eines »neuen Hauses« mit seiner »glatten Fassade und einem tadellosen Verputz«: »dann muß ich ein wenig lachen, ich sage nur: ein neues Haus und lache ein wenig, wie kann es ein neues Haus geben?, es wird es nicht weit bringen«.

Genazino definiert Komik als »Reduzierung von zusammenhängendem Geschehen auf Details. Rückgewinnung des Details. Das Kleine muß plötzlich für das Ganze stehen, das dadurch komisch wird in der Erfahrung«. Und genau so verfährt er ja in seiner poetischen Praxis, wenn er etwa in der S-Bahn den Sprachscherz eines Kindes belauscht: »In der Stationsdurchsage heißt es: Nächster Halt: Griesheim. Ein Kind sagt: Nächster Halt: Griesbrei. Die Fahrgäste lachen über den Einfall des Kindes, aber nicht lange. Dann werden sie wieder ernst und schauen auf den Griesbrei draußen, in dem sie weiterleben werden.« Und unser aller Leben im Gries(s)-brei wäre folglich das Ganze, auf das Genazino stets zu gehen pflegte.

Am 2.5.2018, wenige Monate vor seinem Lebensende, notiert Wilhelm Genazino: »Der nicht eintretende Tod wird zur Parodie seiner selbst; vielleicht liegt darin der Grund für die Komik des Alterns.« Dieser Eintrag entbehrt seinerseits nicht einer gewissen traurigen Komik. Erfreulich ist hingegen, dass der Autor 38 Aktenordner mit Aufzeichnungen hinterlassen hat. Da sollte es doch noch ausreichend Schätze zu heben geben, mit denen sich der zusehends unkomischere Raum ein wenig besser ertragen ließe.

  

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 U sure, Jürgen Klopp?

U sure, Jürgen Klopp?

Nachdem Sie Ihren Posten beim FC Liverpool niedergelegt haben, halten Sie sich in Sachen Zukunftspläne bedeckt. Nur so viel: »Ich werde irgendwas arbeiten. Ich bin zu jung, um nur noch Padel-Tennis und Enkelkinder zu machen.«

Keine Ahnung, wie Sie sich den typischen Alltag im Ruhestand so vorstellen, Kloppo. Doch wenn Menschen fortgeschrittenen Alters Nachwuchs zeugen, heißt das Ergebnis – zumindest in den meisten Fällen – »Kinder« und nicht »Enkelkinder«.

Schwant Böses: Titanic

 Genau so war es, lieber »Tagesspiegel«!

»Die Trauer um die Mauertoten erinnert uns daran, was es bedeutet, Hoffnung, Mut und letztlich das eigene Leben für ein Leben in Freiheit zu opfern«, mahnst Du am Jahrestag des Mauerbaus. Ja, wer kennt sie nicht, die ganzen Menschen, die die Hoffnung auf ein besseres Leben und den Mut, ihr Leben zu riskieren, längst aufgegeben haben, um dann an der Mauer zu sterben, wiederaufzuerstehen und ein gutes Leben im freien Westen zu führen? Mögen sie und Deine Formulierungsgabe in Frieden ruhen, Tagesspiegel!

Herzliches Beileid schickt Titanic

 Ach, Andrea Munkert,

da bezahlt Sie das Nürnberger Stadtmarketing dafür, vom innerstädtischen Elend abzulenken und eine verschnarchte Ecke namens Weinmarkt in himmlische Höhen zu loben – und was tun Sie? Sie schreiben: »Nürnberg – Während in den Einkaufsstraßen in der Innenstadt der Leerstand jault, pulsiert in einem neugestalteten Altstadt-Quartier das pralle Leben. Der Weinmarkt ist erwacht, erblüht – und so ganz anders als der Rest der Altstadt.«

Jaulender Leerstand – wer kennt’s nicht vom Besuch quasi jedweder Innenstadt? Wie ebenfalls üblich schläft der Rest der Altstadt, verwelkt, ja verdorrt gar krachend. Und wenn man genau hinhört, grunzt da nicht auch ein wenig die Aufenthaltsqualität? Aber wenn erst die Mieterhöhung singt und die Immobilienspekulation trommelt, dann ist die Stadt sicherlich wieder hellwach.

Heult still in sich hinein: Titanic

 It’s us, hi, Kulturwissenschaftler Jörn Glasenapp!

Dass Sie als Verfasser einer Taylor-Swift-Monographie Ihren Gegenstand öffentlich verteidigen, etwa im Deutschlandfunk Nova oder bei Zeit Campus: geschenkt. Allein, die Argumente, derer Sie sich dafür bedienen, scheinen uns sanft fragwürdig: Kritik an Swift sei eine Sache »alter weißer Männer«, im Feuilleton herrsche immer noch König Adorno, weshalb dort Pop und »Kulturindustrie« unentwegt verdammt würden, und überhaupt sei die zelebrierte Verachtung des Massengeschmacks eine ausgesprochen wohlfeile Methode, Distinktion zu erzeugen, usw.

Je nun, Glasenapp: Wir sind in der privilegierten Position, dass es uns erst mal egal sein kann, ob Taylor Swift nun gute Kunst macht oder schlechte. Wir sind da pragmatisch: Manchmal macht das Lästern Spaß, manchmal der Applaus, je nachdem, wer sich gerade darüber ärgert. An Ihnen fällt uns bloß auf, dass Sie selbst so ein peinlicher Distinktionswicht sind! Denn wenn unter alten weißen Männern Swiftkritik tatsächlich Konsens und Massensport ist, dann sind Sie (*1970) wieder nur der eine nervige Quertreiber, der sich abheben will und dazwischenquäkt: Also ich find’s eigentlich ganz gut!

Finden das eigentlich auch ganz gut: Ihre Affirmations-Aficionados von Titanic

 Hello, tagesschau.de!

All Deinen Leser/innen, die von Tim Walz, der für die US-Demokraten als Vizekandidat in den Wahlkampf ziehen soll, bisher noch nicht allzu viel gehört hatten, wusstest Du doch immerhin zu berichten, er sei ein ehemaliger »Lehrer und gilt als einer, der die einfache Sprache der Menschen spricht«. Und nichts für ungut, tagesschau.de, aber dass ein Kandidat im US-Wahlkampf, ein einstiger Lehrer zudem, Englisch spricht, das haben selbst wir uns schon beinahe gedacht.

Deine einfachen Menschen von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Treehuggers

Bei aller Liebe zum Veganismus: Plant Parenthood geht mir zu weit.

Sebastian Maschuw

 Hä?

Demenz kennt kein Alter.

Moppel Wehnemann

 Schock total

Wenn im Freibad dieser eine sehr alte Rentner, der sich beim Schwimmen kaum fortzubewegen scheint, der bei seinen zeitlupenartigen Zügen lange untertaucht und von dem man dachte, dass er das Becken schon vor langer Zeit verlassen hat, plötzlich direkt vor einem auftaucht.

Leo Riegel

 Bilden Sie mal einen Satz mit »AKW«

Der Bauer tat sich seinen Zeh
beim Pflügen auf dem AK W.

Jürgen Miedl

 Meine Mitbewohnerin

legt Dinge, die nicht mehr so ganz intakt sind, in Essig ein. Dabei ist es egal, ob es sich um verkalkte, schmutzige oder verschimmelte Dinge handelt. Ich würde bei ihr den Verbrauch von Salzsäure in den kommenden Jahren intensiv beobachten – gerade falls ihr Partner unerwarteterweise verschwinden sollte.

Fia Meissner

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 12.09.:

    "Heute detoxe ich im Manager-Retreat im Taunus": TITANIC-Chefredakteurin Julia Mateus im Interview mit dem Medieninsider.

Titanic unterwegs
13.09.2024 Stade, Schwedenspeicher Ella Carina Werner
14.09.2024 Frankfurt, Museum für Komische Kunst Bernd Pfarr: »Knochenzart«
16.09.2024 Wiedensahl, Wilhelm-Busch-Geburtshaus Hilke Raddatz mit Tillmann Prüfer
17.09.2024 Stadthagen, Wilhelm-Busch-Gymnasium Wilhelm-Busch-Preis Hilke Raddatz mit Bernd Eilert