Humorkritik | September 2021

September 2021

»Ich möchte belehren und fürchte zu gefallen; ich möchte raten und fürchte zu belustigen; ich möchte einwirken auf meine guten Mitbürger und ihren Ernst ansprechen, und ich fürchte Lachen zu erregen.«
Ludwig Börne

In tam maledica civitate

Dass es besser sei, einen Freund zu verlieren als eine Pointe, hat ähnlich schon Billy Wilder postuliert. Erfunden hat er die »berühmte Maxime« nicht – bereits die alten Römer kannten sie, wie Dennis Pausch in seinem Buch über »Virtuose Niedertracht. Die Kunst der Beleidigung in der Antike« (C. H. Beck) deutlich macht. Auch sonst ist vieles, was heute neu scheint, uralt: Eine mit Schimpfwörtern geführte »Battle« schildert genüsslich Horaz, erfindungsreiche »hate speech« ersann mit Freuden der Jurist und Politiker Cicero, der z. B. einen Erzfeind als »schwarzes Nichts« und »Stück Kot« verhöhnte; Catull und Martial huldigten sowieso dem modernen Prinzip »Warum sachlich, wenn’s auch persönlich geht« und trugen nach Kräften dazu bei, dass die Römer »in tam maledica civitate«, »in einer sehr schmähsüchtigen Gesellschaft«, lebten.

Nicht überall, wo Schmähung draufsteht, ist aber Schmähung drin, damals wie heute. Die lustvoll grobe An- und Gegenrede, wie sie hierzulande etwa unter Tübinger Weingärtnern Usus zumindest war und zu legendären »Gôgen-Witzen« stilisiert wurde, ist ein vielleicht angegrautes Beispiel; jugendfrischer der Hinweis, dass der Brauch, sich derb anzufrotzeln, unter befreundeten jungen Männern nicht ausgestorben ist. Das römische Altertum kannte eine ähnliche Praxis: Auf den Triumphzügen sangen die siegreich heimkehrenden Soldaten Spottverse auf ihren Feldherrn und machten sich nach Monaten oder Jahren widerwortlosen Gehorsams Luft, ohne dass darunter der Respekt vor dem Imperator litt.

Verblüffend genug, dass die Römer sogar jene raffinierte Komik höheren Grades kannten, die in bösen Klischees schwelgt, um sie scheinbar zu bestätigen und tatsächlich lächerlich zu machen. In Plautus’ Lustspiel »Poenulus« (Der kleine Punier) aus dem 2. Jh. v. Chr. wird der Karthager Hanno von einem Römer als »Männchen in Daumengröße«, als »abgeschabter Hering« und »sardischer Schafspelz« angeraunzt – der klügere Teil des Publikums dürfte weniger über den sympathischen Helden als über die vertrauten fremdenfeindlichen Vorurteile gelacht haben.

Versteht sich, dass schon damals die Herrschaft versuchte, ihre Kritiker zu kaufen; doch das gelang selbst Cäsar nicht. Ebenso versteht sich, dass oft Erklärungen vonnöten sind, um den Witz unter der Schicht von 2000 Jahren freizulegen. Aber manchmal gibt er sich auch selbständig zu erkennen, wie in dieser Anekdote, derzufolge ein gewisser Cassius Severus auf den eitlen Rhetor Lucius Cestius Pius traf. Der übte laut eine Rede ein, und »mit der üblichen Bewunderung für seine Leistungen sagte er: ›Wenn ich ein Gladiator wäre, wäre ich Fusius. Wenn ich ein Pantomime wäre, wäre ich Rathellus; wenn ich ein Rennpferd wäre, wäre ich Melissio.‹ Da konnte ich meinen Ärger nicht zurückhalten und rief: ›Und wenn du eine Kloake wärst, wärest du die Cloaca maxima!‹«

Lustig war’s bei den alten Römern! Und den alten Griechen? Davon erzählt Dennis Pausch entgegen dem Versprechen im Titel seines Buches nichts. Das allerdings ist nicht lustig.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Wenn, Sepp Müller (CDU),

Bundeskanzler Olaf Scholz, wie Sie ihm vorwerfen, in einem »Paralleluniversum« lebt – wer hat dann seinen Platz in den Bundestagsdebatten, den Haushaltsstreitgesprächen der Ampelkoalition, beim ZDF-Sommerinterview usw. eingenommen?

Fragt die Fringe-Division der Titanic

 Du, »MDR«,

gehst mit einer Unterlassungserklärung gegen die sächsische Linke vor, weil die im Wahlkampf gegen die Schließung von Kliniken plakatiert: »In aller Freundschaft: Jede Klinik zählt.« Nun drohen juristische Scharmützel nebst entsprechenden Kosten für beide Seiten. Wie wäre es, wenn die Linke ihr Plakat zurückzieht und im Gegenzug nur eine einzige Klinik schließt? Die Ersparnisse dürften gewaltig sein, wenn die Sachsenklinik erst mal dichtgemacht hat.

Vorschlag zur Güte von Deinen Sparfüchsen von Titanic

 Mahlzeit, Erling Haaland!

Mahlzeit, Erling Haaland!

Zur Fußballeuropameisterschaft der Herren machte erneut die Schlagzeile die Runde, dass Sie Ihren sportlichen Erfolg Ihrer Ernährung verdankten, die vor allem aus Kuhherzen und -lebern und einem »Getränk aus Milch, Grünkohl und Spinat« besteht.

»Würg!« mögen die meisten denken, wenn sie das hören. Doch kann ein Fußballer von Weltrang wie Sie sich gewiss einen persönlichen Spitzenkoch leisten, der die nötige Variation in den Speiseplan bringt: morgens Porridge aus Baby-Kuhherzen in Grünkohl-Spinat-Milch, mittags Burger aus einem Kuhleber-Patty und zwei Kuhherzenhälften und Spinat-Grünkohl-Eiscreme zum Nachtisch, abends Eintopf aus Kuhherzen, Kuhleber, Spi… na ja, Sie wissen schon!

Bon appétit wünscht Titanic

 Hi, Daniel Bayen!

Sie sind sehr jung und waren mit Ihrer Firma für Vintage-Klamotten namens Strike vorübergehend sehr erfolgreich. Die ist jetzt pleite, machte aber zeitweise 2,9 Millionen Euro Umsatz. Der Bedarf war so groß, dass Correctiv-Recherchen zufolge sogar massenhaft Neuware zwischen die Secondhand-Bekleidung gemischt wurde. Auch Sie räumten demnach ein, gefälschte Ware geordert zu haben. Allerdings, so behaupten Sie, nur, um Ihren »Mitarbeitern zu zeigen, wie man gefälschte Ware identifiziert und aussortiert«.

Aber Bayen, Ihre Expertise besteht doch darin, neue Sachen auf alt zu trimmen. Also versuchen Sie bitte nicht, uns solche uralten Tricks zu verkaufen!

Recycelt Witze immer nach allen Regeln der Kunst: Titanic

 Du wiederum, »Spiegel«,

bleibst in der NBA, der Basketball-Profiliga der Männer in den USA, am Ball und berichtest über die Vertragsverlängerung des Superstars LeBron James. »Neuer Lakers-Vertrag – LeBron James verzichtet offenbar auf Spitzengehalt«, vermeldest Du aufgeregt.

Entsetzt, Spiegel, müssen wir feststellen, dass unsere Vorstellung von einem guten Einkommen offenbar um einiges weiter von der Deiner Redakteur/innen entfernt ist als bislang gedacht. Andere Angebote hin oder her: 93 Millionen Euro für zwei Jahre Bällewerfen hätten wir jetzt schon unter »Spitzengehalt« eingeordnet. Reichtum ist wohl tatsächlich eine Frage der Perspektive.

Arm, aber sexy: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Zeitsprung

Dem Premierenpublikum von Stanley Kubricks »2001: Odyssee im Weltraum« wird der Film 1968 ziemlich futuristisch II vorgekommen sein.

Daniel Sibbe

 Verabschiedungsrituale

Wie sich verabschieden in größerer Runde, ohne dass es ewig dauert? Ich halte es so: Anstatt einen unhöflichen »Polnischen« zu machen, klopfe ich auf den Tisch und sage: »Ich klopf mal, ne?«. Weil mir das dann doch etwas unwürdig erscheint, klopfe ich im Anschluss noch mal bei jeder Person einzeln. Dann umarme ich alle noch mal, zumindest die, die ich gut kenne. Den Rest küsse ich vor lauter Verunsicherung auf den Mund, manchmal auch mit Zunge. Nach gut zwanzig Minuten ist der Spuk dann endlich vorbei und ich verpasse meine Bahn.

Leo Riegel

 Guesslighting

Um meine Seelenruhe ist es schlecht bestellt, seit mich ein erschütternder Bericht darüber informierte, dass in Hessen bei Kontrollen 70 Prozent der Gastronomiebetriebe widerlichste Hygienemängel aufweisen (s. Leo Riegel in TITANIC 07/2022). Neben allerhand Schimmel, Schleim und Schmodder herrscht allüberall ein ernsthaftes Schadnagerproblem, die Küchen sind mit Mäusekot nicht nur kontaminiert, sondern praktisch flächendeckend ausgekleidet. Vor lauter Ekel hab ich sofort Herpes bekommen. Nun gehe ich vorhin in meine Küche, und auf der Arbeitsplatte liegen grob geschätzt 30 kleine schwarze Kügelchen. Ich bin sofort komplett ausgerastet! Zehn hysterische Minuten hat es gedauert, bis mir klar wurde, dass der vermeintliche Kot die Samen eines dekorativen Zierlauchs waren, der einen Blumenstrauß krönte, den eine liebe Freundin mir geschenkt hat. Ich hätte ihn einfach nicht noch einmal anschneiden sollen … Hysterie off, Scham on.

Martina Werner

 Der kästnerlesende Bläser

Es gibt nichts Gutes
außer: Ich tut’ es.

Frank Jakubzik

 Der kästnerlesende Kniebeuger

Es gibt nichts Gutes
Außer man Glutes.

Sebastian Maschuw

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.08.2024 Kassel, Caricatura-Galerie Miriam Wurster: »Schrei mich bitte nicht so an!«
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst Die Dünen der Dänen – Das Neueste von Hans Traxler
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst »F. W. Bernstein – Postkarten vom ICH«
09.08.2024 Bremen, Logbuch Miriam Wurster