Humorkritik | November 2020

November 2020

Sich umbringen heißt ja auch, sich ernst nehmen – und das kann ich nicht.
Herbert Feuerstein (1937 – 2020)

Nervsack mit Pointengespür

Der Begriff des »Boomers« – sprich, des fünfzig- bis siebzigjährigen, vorzugsweise weißen Mannes, der spöttisch auf junge Menschen, vorzugsweise Frauen, herabblickt – ist ein in den Medien derzeit stark strapazierter. Umso erstaunlicher, dass ihn in der Welt der Komik bisher kaum jemand für sich reklamiert. Mit seinem neuen Geschichtenband »Oh nee, Boomer!« (Satyr Verlag) tut es jetzt der 1965 geborene Uli Hannemann, Berliner Autor zahlreicher Geschichtenbände und Romane, darunter der von mir gelobte »Hipster wird’s nicht« (TITANIC 10/2014). Der Ich-erzählende Protagonist – wehleidig, melancholisch, misantrophisch – besucht in sechzig Alltagsgeschichten den Kurs »Kontrolliertes Trinken«, blickt augenrollend vom Balkon auf junge FFF-Demonstranten oder führt Zwiegespräche mit seinem Urologen Zbigniew, einem charismatischen Sidekick, der den Erzähler mit Prostata-Tipps sowie trockenen Weisheiten versorgt (»Immer noch besser, scheiße drauf auf der richtigen Seite als scheiße drauf auf der falschen«) und von dem man sich sogleich ein Spin-Off wünscht.

Die unterhaltsamsten sind jene Geschichten, in denen der Erzähler wie ziellos umherschlappt, stets auf der Suche nach jungen, gern weiblichen Menschen, denen er – wiederum strapaziertes Stichwort: Mansplaining – auf den Wecker fallen kann. Da versucht er in der Bäckerei, der jungen Verkäuferin mit bildungsbürgerlichem Altherrengeschwafel zu imponieren, weiß zugleich, dass sie ihn dafür hasst, und malt sich dennoch aus, wie begeistert sie ihn beim nächsten Einkauf begrüßen wird (»Heißa! Da kommt wieder dieser witzige und kluge Mann«). Diese Gleichzeitigkeit von Selbstkritik und -herrlichkeit ist es, was die Erzählhaltung interessant macht. Nur zwei, drei Texte driften ab ins allzu Ätzend-Ironische, überdeutlich Moralische, etwa wenn Hannemann das männliche Künstlergenie »preist« (»Der Künstler muss angeregt werden. Durch Drogen, geistige Getränke und vor allem durch permanente Übergriffigkeit«).

Lieber lese ich da ein Lamento über die »Lernkasse« der Azubis (»Der Schienenersatzverkehr unter den Supermarktkassensituationen«), für die er natürlich Verbesserungsvorschläge hat, um den raschen Kundenfluss nicht zu stören: »Am Computer könnten die kommenden Kassenkräfte mithilfe hochauflösender Full-Reality-Grafiken schwer beherrschbare Ausnahmesituationen trainieren, wie das auf der ganzen Welt gefürchtete Storno oder eine Riesentüte mit zehn verschiedenen Brötchensorten, die man durchs schmale Sichtfenster hindurch korrekt bestimmen und alle einzeln eingeben muss.« So viele Ratschläge teilt Hannemanns Alter Ego aus, dass man beim Lesen selbst in diesen Modus verfällt und dem Autor Tipps geben möchte, wie es noch besser, noch lustiger geht – fiele einem da groß etwas ein.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hey, »Dyn Sports«!

Bitte für zukünftige Moderationen unbedingt merken: Die Lage eines Basketballers, der nach einem Sturz »alle Viere von sich streckt«, ist alles Mögliche, aber bestimmt nicht »kafkaesk«. Sagst Du das bitte nie wieder?

Fleht Titanic

 Wir wollten, »SZ«,

nur mal schnell Deine Frage »Gedenkbäume absägen. Hinweistafeln mit Hakenkreuzen beschmieren. Wer macht sowas?« beantworten: Nazis.

Für mehr investigative Recherchen wende Dich immer gerne an Titanic

 Weiter so, uruguayischer Künstler Pablo Atchugarry!

Eine angeblich von Ihnen geschaffene Bronzeskulptur im englischen Cambridge soll an Prinz Philip erinnern, der dort von 1977 bis 2011 Kanzler der Universität war. Allerdings wird das Kunstwerk, das im Auftrag eines reichen Bauträgers angefertigt wurde, von vielen als verunglückt empfunden und zieht seit nunmehr zehn Jahren Spott auf sich.

Dass Sie mittlerweile die Urheberschaft leugnen, um Ihr Renommee als Künstler zu schützen, ist zwar verständlich, aber aus unserer Sicht völlig unnötig. Wenn sich das Konzept durchsetzt, lästige Promis, die uns über Jahrzehnte viel Zeit, Geld und Nerven gekostet haben, mit langlebigen Schrott-Monumenten zu schmähen, werden Sie sich vor Aufträgen bald kaum noch retten können. Und das Beste: Weil andere Großkopferte sich mit ihren Eskapaden zurückhalten würden, um nicht von Ihnen verewigt zu werden, sorgten Sie auch noch für Ruhe und gesellschaftlichen Frieden.

Hofft, dass dieser Vorschlag einen Stein ins Rollen bringt: Titanic

 Ach, Scheuer-Andi,

wie der Spiegel meldet, wird niemand für Sie in den Bundestag nachrücken. Da scheinen die Fußstapfen wohl einfach zu groß zu sein.

Die Besten gehen immer zu früh …

Weiß Titanic

 Bild.de!

»Springer hatte im Januar bundesweit für Entsetzen gesorgt«, zwischentiteltest Du mit einem Mal überraschend selbstreferenziell. Und schriebst weiter: »Nach der Enthüllung des Potsdamer ›Remigrations‹-Treffens von AfD-Politikern und Rechtsextremisten postete Springer: ›Wir werden Ausländer zurückführen. Millionenfach. Das ist kein Geheimnis. Das ist ein Versprechen.‹« Und: »In Jüterbog wetterte Springer jetzt gegen ›dahergelaufene Messermänner‹ und ›Geld für Radwege in Peru‹«.

Dass es in dem Artikel gar nicht um Dich bzw. den hinter Dir stehenden Arschverlag geht, sondern lediglich der Brandenburger AfD-Vorsitzende René Springer zitiert wird, fällt da kaum auf!

Zumindest nicht Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Gebt ihnen einen Lebenszyklus!

Künstliche Pflanzen täuschen mir immer gekonnter Natürlichkeit vor. Was ihnen da aber noch fehlt, ist die Fähigkeit zu verwelken. Mein Vorschlag: Plastikpflanzen in verschiedenen Welkstadien, damit man sich das Naserümpfen der Gäste erspart und weiterhin nur dafür belächelt wird, dass man alle seine Zöglinge sterben lässt.

Michael Höfler

 Finanz-Blues

Wenn ich bei meiner langjährigen Hausbank anrufe, meldet sich immer und ausnahmslos eine Raiffeisenstimme.

Theobald Fuchs

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 Citation needed

Neulich musste ich im Traum etwas bei Wikipedia nachschlagen. So ähnlich, wie unter »Trivia« oft Pub-Quiz-Wissen gesammelt wird, gab es da auf jeder Seite einen Abschnitt namens »Calia«, voll mit albernen und offensichtlich ausgedachten Zusatzinformationen. Dank Traum-Latinum wusste ich sofort: Na klar, »Calia« kommt von »Kohl«, das sind alles Verkohl-Facts! Ich wunderte mich noch, wo so ein Quatsch nun wieder herkommt, wusste beim Aufwachen aber gleich, unter welcher Kategorie ich das alles ins Traumtagebuch schreiben konnte.

Alexander Grupe

 Nicht lustig, bloß komisch

Während ich früher schon ein kleines bisschen stolz darauf war, aus einer Nation zu stammen, die mit Loriot und Heinz Erhardt wahre Zen-Meister der Selbstironie hervorgebracht hat, hinterfrage ich meine humoristische Herkunft aufgrund diverser Alltagserfahrungen jetzt immer öfter mit Gedanken wie diesem: Möchte ich den Rest meines Lebens wirklich in einem Land verbringen, in dem man während seiner Mittagspause in ein Café geht, das vor der Tür vollmundig mit »leckerem Hunde-Eis« wirbt, und auf seine Bestellung »Zwei Kugeln Labrador und eine Kugel Schnauzer« statt des fest eingeplanten Lachers ein »RAUS HIER!« entgegengebrüllt bekommt?

Patric Hemgesberg

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hannover, TAK Ella Carina Werner
01.05.2024 Berlin, 1.-Mai-Fest der PARTEI Martin Sonneborn mit Sibylle Berg