Müters Söhne #17
Fragen
"Mach dir nicht zu viele Sorgen – oder willst du etwa einen Gehirntumor?"
Henry ist 12 Jahre alt. Seine Mutter Viola Müter schreibt hier im wöchentlichen Wechsel über ihn und ihre anderen zwei Söhne im Alter von 5 und 17 Jahren. Die Mutter nennt sie liebevoll ihre "Mütersöhnchen".
Kinder stellen viele Fragen. Besonders lästig wird es, wenn sich die Fragen wiederholen. Ich zähle mittlerweile nicht mehr mit, wie oft ich "Warum darf Thorben bei Freunden übernachten und ich nicht?" und "War 9/11 wirklich ein inside job?" höre. Niemals hätte ich aber damit gerechnet, dass Henry mich einmal fragen würde, ob ich ein Gebärmutterritual von ihm empfangen wolle. "Das ist für Frauen sehr heilsam." Ich lehnte dankend ab. Nicht, weil ich etwas gegen schamanische Rituale habe. Ich selbst habe vor langer Zeit meine Großmutter mit einem Fluch belegt, nachdem sie meine neue Frisur kritisiert hatte. Sie stolperte einige Tage später über den Perserteppich in den Wohnzimmerschrank. Danach kritisierte sie nicht nur meinen Pixie Cut, sondern auch die frische Tönung umso schärfer.
Aber nicht meine schlechte Erfahrung ist der Grund für meine Absage. Ich traue Henry nicht. Immer wieder steigert er sich in neue Themen rein. Ein Experte ist er danach wahrlich nicht. Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass ich mir in seiner Version einer Gebärmutterreinigung ein Spülmaschinentab einführen muss. Das möchte ich aber nicht, auch keinen mit Ecolabel. Henrys neuem Ich begegne ich daher mit Vorsicht. Gleich nach Thorbens und meiner Rückkehr aus Paris fiel mir auf, dass er sich verändert hatte. Henry wirkte ruhiger, nachdenklicher, achtsamer. "Bist du dir sicher?", fragte er mich als Nächstes. Ob ich mich denn nicht auf meine weibliche Urkraft zurückbesinnen wolle. "Gerade jetzt, wo Papa dich verlassen hat."
Verlassen ist ein starkes Wort. Ich interpretiere die Situation anders. Mein Mann ist kurz vor meiner Ankunft nach Neuseeland geflogen. Mit Birgit, Henrys Yogalehrerin und unserer gemeinsamen Freundin aus dem Ashram, und den Worten "Mir reicht es" auf einem Post-it am Kühlschrank. Dafür ohne Rückflugticket für beide, wie ich Birgits Whatsapp-Story entnehmen konnte. Sollen sie machen, denke ich, ein längerer Urlaub würde auch mir mal wieder guttun. "Möchtest du etwas gegen die Kopfschmerzen?" Henry hielt mir eine kleine Schatulle mit weißen Kügelchen hin. Ich pickte mir das schönste heraus.
Diese Frage stimmte mich hingegen hoffnungsvoll. Noch vor zwei Wochen wäre sie unvorstellbar gewesen. Tatsächlich plagte mich ein starkes Stechen in der Stirnregion, seit ich wieder zu Hause war. Lag vermutlich an dem penetranten Räucherstäbchengestank, der sich in der Wohnung festgesetzt hatte. Er erinnerte mich an Birgit. Henry legte seine Hand auf meine und schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf. "Vergiss Birgit und mach dir nicht zu viele Sorgen — oder willst du etwa einen Gehirntumor?" Ich musste lächeln. Auch ich glaube, dass positive Gedanken unseren Lebensweg beeinflussen. Vielleicht ist Henrys Entwicklung dieses Mal doch eine vielversprechende. Die Frage, ob Thorbens Verschwinden auch etwas Gutes hatte, wäre damit jedenfalls eindeutig beantwortet.
Die Kolumne von Viola Müter erscheint jeden Donnerstag nur bei TITANIC.
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