Humorkritik | März 2024

März 2024

»Lachen kann etwas sehr Machtvolles sein, denn manchmal ist das im Leben die einzige Waffe, die wir haben.«
Roger Rabbit

Armes Ding

Bei »Poor Things«, dem neuen Film von Giorgos Lanthimos, handelt es sich um so etwas wie einen frankensteinesken Coming-Of-Age-Film und zugleich um die lustigste und gelungenste filmische Satire, die mir seit längerem untergekommen ist.

Aber von vorn. Im viktorianischen London experimentiert der stark entstellte Chirurg und Universitätsprofessor Dr. Godwin Baxter mit Tieren. Er hat die Körperteile sehr unterschiedlicher Arten so aneinandergenäht, dass lebensfähige Hybride entstanden sind, und schon dieser interessante Streichelzoo hat mir gut gefallen. Nun bekommt Baxter die Leiche einer jungen, schwangeren Frau (Emma Stone) in die Hände, die sich eben von der Tower Bridge gestürzt hat. Ihr Körper ist noch warm, doch statt sie wiederzubeleben, entnimmt ihr Baxter den Fötus und pflanzt ihr dessen Gehirn ein. So erschafft er eine Erwachsene mit Babyhirn, die er Bella tauft und die ihre eigene Mutter und gleichzeitig ihre eigene Tochter ist. Bella nennt Baxter indes kurz »God«.

Es ist dieser »God«, trotz seines Namens und seines Talents, alles nach Gutdünken zu vernähen und zu verpflanzen, eine erbarmungswürdige Figur: von seinem Vater derart zerlegt, dass er nicht nur die Fähigkeit eingebüßt hat, Nahrung zu verdauen, sondern auch diejenige, Sex zu haben. Diese »God«-Figur, die nach jedem Essen riesige, an Globen erinnernde Seifenblasen rülpst, deutet das Thema des Films bereits an: die Überwindung des Patriarchats, das hier einerseits entmachtet, andererseits schlicht überflüssig wird. Denn Bella ist zwar von einem Mann »erschaffen« worden, emanzipiert sich allerdings bald, vor allem durch ihre kindliche Schamlosigkeit: erst als (geistiges) Kleinkind, das Laufen und Bällefangen lernt (und als wackliges, zu Wutanfällen und Gemeinheiten neigendes Balg schon an sich lustig anzusehen ist); später, als sie entdeckt, über ein voll ausgebildetes Geschlechtsteil zu verfügen, das ihr bei Reibung die allererfreulichsten Gefühle beschert. Das führt, Sie ahnen es, ebenfalls zu komisch-verstörenden Szenen, etwa wenn sie der gestrengen älteren Kinderfrau eine erotische Freude bereiten möchte – wie Kinder eben so sind. Bellas Entwicklung ruft sehr bald den windigen, aber attraktiven Gigolo Duncan auf den Plan, der die unerschöpfliche sexuelle Neugier dieser seltsamen Frau zu bedienen und zur eigenen Befriedigung auszunutzen versteht und sie umgehend zu einer Lustreise durch Südeuropa und Nordafrika überredet.

Eine der besonderen komischen Strategien des Films liegt in seiner Explizitheit, die mindestens softpornographisch ist. Etwa in einer Szene im Bordell, wo Bella (als Prostituierte) Besuch bekommt von einem Mann, der seine beiden Söhne mitnimmt, weil er ihnen einen Einführungskurs in Sachen Sex verschaffen will. Die Jungs sollen also dem Vater zuschauen, wie er geschlechtliche Handlungen an einer Prostituierten vornimmt bzw. sie an ihm – man erwartet hier eigentlich einen Schnitt, denn die Pointe ist ja angekommen. Aber die Kamera bleibt drauf und zeigt nicht nur den Sex, sondern auch die beiden braven Jungs, die sich Notizen machen.

Irgendwann ist Bella in ihrer Entwicklung ungefähr im Teenager-Alter angekommen, entfaltet Empathie und Moralvorstellungen, interessiert sich für Philosophie und Naturwissenschaft. Damit entwächst sie aber dem schlichten Gemüt Duncans, der neben ihr zunehmend zur inferioren Figur wird und Bellas Entwicklung im Wege steht. Und so geht es dahin, bis die Emanzipationsgeschichte im Finale noch einmal durchdreht und in der verdienten Ziegenwerdung des Gigolos endet. Was das heißt? Das dürfen Sie gern selbst herausfinden. Aber nicht meckern!

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hä, »Spiegel«?

»Aber gesund machen wird diese Legalisierung niemanden!« schreibst Du in einem Kommentar zum neuen Cannabisgesetz. »Ach, echt nicht?« fragen wir uns da verblüfft. Wir waren bisher fest vom Gegenteil überzeugt. Immerhin haben Kiffer/innen oft sehr gute feinmotorische Fähigkeiten, einen gesunden Appetit und ärgern sich selten. Hinzu kommen die unzähligen Reggaesongs, in denen das Kiffgras als »Healing of the Nation« bezeichnet wird. All dies willst Du nun tatsächlich infrage stellen? Da lieber noch mal ganz in Ruhe drüber nachdenken!

Empfehlen Deine Blättchenfreund/innen von Titanic

 Vielen Dank, Claudia Schiffer!

Vielen Dank, Claudia Schiffer!

Die Bunte zitiert Sie mit der Aussage: »Um zu überleben, muss man gesund sein, und wenn man am gesündesten ist, sieht man einfach auch am jüngsten aus!« Gut, dass Sie diese Erkenntnis an uns weitergeben!

Geht jetzt zur Sicherheit bei jeder neuen Falte, Cellulitedelle und grauen Strähne zum Arzt:

Ihre greise Redaktion der Titanic

 Prophetisch, »Antenne Thüringen«?

Oder wie sollen wir den Song verstehen, den Du direkt nach der von Dir live übertragenen Diskussion zwischen Mario Voigt und Björn Höcke eingespielt hast? Zwar hat der Thüringer CDU-Fraktionschef Höckes Angebot einer Zusammenarbeit nach der Wahl ausgeschlagen. Aber es wettet ja so manche/r darauf, dass die Union je nach Wahlergebnis doch noch machthungrig einknickt. Du jedenfalls lässt im Anschluss den Musiker Cyril mit seinem Remake des Siebziger-Lieds »Stumblin’ in« zu Wort kommen: »Our love is alive / I’ve fallen for you / Whatever you do / Cause, baby, you’ve shown me so many things that I never knew / Whatever it takes / Baby, I’ll do it for you / Whatever you need / Baby, you got it from me.« Wenn das nicht mal eine Hymne auf eine blau-schwarze Koalition ist!

Hätte sich dann doch eher »Highway to Hell« gewünscht: Titanic

 Hallihallo, Michael Maar!

In unserem Märzheft 2010 mahnte ein »Brief an die Leser«: »Spannend ist ein Krimi oder ein Sportwettkampf.« Alles andere sei eben nicht »spannend«, der schlimmen dummen Sprachpraxis zum Trotz.

Der Literatur- ist ja immer auch Sprachkritiker, und 14 Jahre später haben Sie im SZ-Feuilleton eine »Warnung vor dem S-Wort« veröffentlicht und per Gastbeitrag »zur inflationären Verwendung eines Wörtchens« Stellung bezogen: »Nein, liebe Radiosprecher und Moderatorinnen. Es ist nicht S, wenn eine Regisseurin ein Bachmann-Stück mit drei Schauspielerinnen besetzt. Eine Diskussionsrunde über postmoderne Lyrik ist nicht S. Ein neu eingespieltes Oboenkonzert aus dem Barock ist nicht S.«

Super-S wird dagegen Ihr nächster fresher Beitrag im Jahr 2038: Das M-Wort ist ja man auch ganz schön dumm!

Massiv grüßt Sie Titanic

 Könnte es sein, »ARD-Deutschlandtrend«,

dass Dein Umfrageergebnis »Mehrheit sieht den Frieden in Europa bedroht« damit zusammenhängt, dass seit über zwei Jahren ein Krieg in Europa stattfindet?

Nur so eine Vermutung von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Immerhin

Für mich das einzig Tröstliche an komplexen und schwer zugänglichen Themen wie etwa Quantenmechanik, Theodizee oder den Hilbertschen Problemen: Letztlich ist das alles keine Raketenwissenschaft.

Michael Ziegelwagner

 100 % Maxx Dad Pow(d)er

Als leidenschaftlicher Kraftsportler wünsche ich mir, dass meine Asche eines Tages in einer dieser riesigen Proteinpulverdosen aufbewahrt wird. Auf dem Kaminsims stehend, soll sie an mich erinnern. Und meinen Nachkommen irgendwann einen köstlichen Shake bieten.

Leo Riegel

 Spielregeln

Am Ende einer Mensch-ärgere-dich-nicht-Partie fragt der demente Herr, ob er erst eine Sechs würfeln muss, wenn er zum Klo will.

Miriam Wurster

 Dual Use

Seit ich meine In-Ear-Kopfhörer zugleich zum Musikhören und als Wattestäbchen verwende, stört es mich gar nicht mehr, wenn beim Herausnehmen der Ohrstöpsel in der Bahn getrocknete Schmalzbröckelchen rauspurzeln.

Ingo Krämer

 Vom Feeling her

Es hat keinen Sinn, vor seinen Gefühlen wegzulaufen. Man muss sich schon auch mal hinter einem Baum verstecken und warten, dass die das nicht merken und an einem vorbeiziehen, sonst bringt das ja alles nichts.

Loreen Bauer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
23.05.2024 Bielefeld, Theaterlabor Max Goldt
24.05.2024 Dresden, Buchladen Tante Leuk Thomas Gsella
30.05.2024 Frankfurt, Museum für Komische Kunst »POLO«
30.05.2024 Frankfurt, Museum für Komische Kunst Hans Traxler: »Die Dünen der Dänen«