Humorkritik | September 2023

September 2023

»Still ruhte wieder alles, und halbbewußt bat Kurtchen, es möge dabei bleiben; er hatte tatsächlich den Eindruck, er müsse beim nächsten Anfall von Humoristik sicher sterben.«
Stefan Gärtner, »Glanz und Elend des Kurtchen Sahne«

Bu(r)mann gefunden

Zu den spleenigsten literarischen Formen zählt das Leipogramm: ein Text, in dem bestimmte Buchstaben systematisch vermieden werden. Als bekanntes Beispiel lässt sich Georges Perecs Irrsinnsprojekt »La disparition« nennen, das auf 300 Seiten ohne den Buchstaben E auskommt (TITANIC 5/2019). Perecs Roman wurde von Gilbert Adair (»A Void«, 1995) sowie von dem in sympathischem Widerspruch zum Projekt benannten Eugen Helmlé (»Anton Voyls Fortgang«, 1986) unter Wahrung der Spielregel sogar ins Englische bzw. Deutsche übertragen.

Nicht ganz so ambitioniert ist die Verssammlung geraten, die der aus der Lausitz stammende, vor allem mit Fabeln und Liedern bekannt gewordene Gottlob Wilhelm Burmann Ende des 18. Jahrhunderts vorgelegt hat. Sein schmales Bändchen »Gedichte ohne den Buchstaben R« leitet Burmann als eine zwar »sehr entbehrliche«, aber doch »auch nicht ganz unangenehme Tändeley« ein, mit der er »die deutsche Sprache einmal in einem ganz weichen Dialekt« kennenlernen will (ohne aber deshalb etwa auf den kehligen »ach«-Laut oder jedwede Plosive zu verzichten). Allzu viel Selbstironie oder ein Gespür für Gags kann man Burmann nicht nachsagen, ein paarmal gelacht habe ich bei der Lektüre seiner Verse trotzdem, wenn auch eher auf Kosten des Autors als mit ihm. Dass er in der 2. Auflage seinem Gedicht »An die Glücksgöttin« eine Fußnote beifügt, um klarzustellen, dass an einer Stelle (»quält mich Laus auf Laus«) nicht der kleine Blutsauger, sondern das laus deo gemeint ist, zeugt von der trotzigen Beharrlichkeit eines Unverstandenen mit begrenztem Ausdrucksvermögen; ansonsten beweist Burmann vor allem den Eifer des Gelegenheitsdichters, der zu jedem runden Geburtstag im Familienkreis seine Kreuzreimstrophen beisteuert. Die meisten seiner frömmelnden Oden beschwören den Zauber des Alltäglichen, von der Tonkunst (»Und des Landmanns Flötenspiel / Weyhest du zum Festgefühl«) über den Mond (»Sanfte Luna, gut und milde«) bis hin zum ungeschminkten weiblichen Gesicht (»Die Mädchen gleichen Amazonen, / Wenn Schminke sie halb wilde macht«). Da sich ohne R wesentlich besser auskommen lässt als ohne E, halten sich die sprachlichen Pirouetten in Grenzen (Burmann fabuliert von »colossischen Gebäuden« statt von »riesigen Häusern«), und der Dichter muss sich die ent-R-te Welt auch nicht so zurechtzimmern wie andere Verfechter des Leipogramms (beispielsweise endet in der deutschen Übertragung von Perecs »Disparition« ein Tennissatz nicht bei sechs, sondern bereits bei fünf gewonnenen Spielen).

Ob das fehlende R tatsächlich den von Burmann erhofften, sanft einlullenden Effekt erzielt, vermag ich nicht abschließend zu beurteilen. Zu mehr Sparsamkeit hätte ich eher bei der Verwendung des Buchstabens O geraten, denn Burmann kommt in fast keinem seiner Hohelieder ohne Interjektion aus, egal ob er auf tugendhafte Weiblichkeit (»O wie gefällig, wie bescheiden«), Vergänglichkeit (»Zeit, o Zeit, wie flüchtig kannst du lauffen!«) oder die göttliche Schöpfung in ihrer Gesamtheit (»Schön, o schön ist die Welt!«) zu sprechen kommt. Der Einschätzung des Autors, jenseits der »Seltenheit der Sache« hätten seine Gedichte »würklich nichts vor sich«, kann ich mich deshalb nur anschließen – und verweise auf Robert Gernhardt, der seinen »Tag, an dem das L verschwand« mit der Einsicht beschießt, pardon: beschließt, dass ohne vollständiges Alphabet eben »aes Fickwerk beiben« muss.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Wenn, Sepp Müller (CDU),

Bundeskanzler Olaf Scholz, wie Sie ihm vorwerfen, in einem »Paralleluniversum« lebt – wer hat dann seinen Platz in den Bundestagsdebatten, den Haushaltsstreitgesprächen der Ampelkoalition, beim ZDF-Sommerinterview usw. eingenommen?

Fragt die Fringe-Division der Titanic

 Diese Steilvorlage, Kristina Dunz (»Redaktionsnetzwerk Deutschland«),

wollten Sie nicht liegenlassen. Die Fußballnation hatte sich gerade mit der EM-Viertelfinalniederlage gegen Spanien angefreundet, der verlorene Titel schien durch kollektive Berauschtheit an der eigenen vermeintlich weltoffenen Gastgeberleistung sowie durch die Aussicht auf vier Jahre passiv-aggressives Gemecker über die selbstverständlich indiskutable Schiedsrichterleistung (»Klarer Handelfmeter!«) mehr als wiedergutgemacht, da wussten Sie einen draufzusetzen. Denn wie es Trainer Julian Nagelsmann verstanden habe, »eine sowohl fußballerisch als auch mental starke National-Elf zu bilden«, die »zupackt und verbindet«, hinter der sich »Menschen versammeln« können und der auch »ausländische Fans Respekt zollen«, und zwar »auf Deutsch« – das traf genau die richtige Mischung aus von sich selbst berauschter Pseudobescheidenheit und nationaler Erlösungsfantasie, die eigentlich bei bundespräsidialen Gratulationsreden fällig wird, auf die wir dank des Ausscheidens der Mannschaft aber sonst hätten verzichten müssen.

Versammelt sich lieber vorm Tresen als hinter elf Deppen: Titanic

 Lieber Jörg Metes (5.1.1959–16.6.2024),

Lieber Jörg Metes (5.1.1959–16.6.2024),

Du warst der jüngste TITANIC-Chefredakteur aller Zeiten. Du warst der Einzige, der jemals eine klare Vorstellung davon hatte, wie das ideale Heft aussehen musste, und hast immer sehr darunter gelitten, dass sich Deine Utopie nur unzureichend umsetzen ließ. Aus Mangel an Zeit und an Mitarbeiter/innen, die bereit waren, sich Nächte um die Ohren zu schlagen, nur um die perfekte Titelunterzeile oder das richtige Satzzeichen am Ende des Beitrags auf Seite 34 zu finden.

Legendär der Beginn Deiner satirischen Tätigkeit, als Du Dich keineswegs über einen Abdruck Deiner Einsendung freutest, sondern Robert Gernhardt und Bernd Eilert dafür beschimpftest, dass sie minimale Änderungen an Deinem Text vorgenommen hatten. Das wurde als Bewerbungsschreiben zur Kenntnis genommen, und Du warst eingestellt. Unter Deiner Regentschaft begann die Blütezeit des Fotoromans, Manfred Deix, Walter Moers und Michael Sowa wurden ins Blatt gehievt, und manch einer erinnert sich noch mit Tränen in den Augen daran, wie er mal mit Dir eine Rudi-Carrell-Puppe vor dem iranischen Konsulat verbrannt hat.

Nach TITANIC hast Du viele, die ihr Glück weder fassen konnten noch verdient hatten, mit Spitzenwitzen versorgt und dem ersten deutschen Late-Night-Gastgeber Thomas Gottschalk humortechnisch auf die Sprünge geholfen. Und dass River Café, eine deutsche Talkshow, die live aus New York kam, nur drei Folgen erlebte, lag bestimmt nicht an Deinen Texten. Auf Spiegel online hieltest Du als ratloser Auslandskorrespondent E. Bewarzer Dein Kinn in die Kamera, und gemeinsam mit Tex Rubinowitz hast Du das Genre des Listenbuches vielleicht sogar erfunden, auf jeden Fall aber end- und mustergültig definiert, und zwar unter dem Titel: »Die sexuellen Phantasien der Kohlmeisen«. Und diese eine Geschichte, wo ein Psychiater in ein Möbelhaus geht, um eine neue Couch zu kaufen, und der Verkäufer probeliegen muss, wo stand die noch mal? Ach, in der TITANIC? Sollte eigentlich in jedem Lesebuch zu finden sein!

Uns ist natürlich bewusst, dass Du auch diesen Brief, wie so viele andere, lieber selber geschrieben und redigiert hättest – aber umständehalber mussten wir das diesmal leider selbst übernehmen.

In Liebe, Deine Titanic

 Nachdem wir, »Spiegel«,

Deine Überschrift »Mann steckt sich bei Milchkühen mit Vogelgrippe an« gelesen hatten, müssen wir selbst kurz in ein Fieberdelirium verfallen sein. Auf einmal waberte da Schlagzeile nach Schlagzeile vor unseren Augen vorbei: »Affe steckt sich bei Vögeln mit Rinderwahnsinn an«, »Vogel steckt sich bei Mann mit Affenpocken an«, »Rind steckt sich bei Hund mit Katzenschnupfen an«, »Katze steckt sich bei Krebs mit Schweinepest an« und »Wasser steckt sich bei Feuer mit Windpocken an«.

Stecken sich auf den Schreck erst mal eine an:

Deine Tierfreund/innen von Titanic

 Kleiner Tipp, liebe Eltern!

Wenn Eure Kinder mal wieder nicht draußen spielen wollen, zeigt ihnen doch einfach diese Schlagzeile von Spektrum der Wissenschaft: »Immer mehr Lachgas in der Atmosphäre«. Die wird sie sicher aus dem Haus locken.

Gern geschehen!

Eure Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dialog auf Augenhöhe

Zu meinen Aufgaben als Marketingexperte in einem modernen Dienstleistungsunternehmen gehört es unter anderem, unzufriedene Kunden zu beschwichtigen. Vor kurzem beschwerte sich einer von ihnen darüber, dass wir in unseren Texten immer dieselben Bausteine verwenden. Die Mail ließ mich ganz irritiert zurück. Ein Glück, dass wir für genau solche Anfragen gleich fertige Antworten haben.

Andreas Maier

 Der kästnerlesende Kniebeuger

Es gibt nichts Gutes
Außer man Glutes.

Sebastian Maschuw

 Claims texten, die im Kopf bleiben

Ist »Preissturz bei Treppenliften« wirklich eine gute Catchphrase?

Miriam Wurster

 Guesslighting

Um meine Seelenruhe ist es schlecht bestellt, seit mich ein erschütternder Bericht darüber informierte, dass in Hessen bei Kontrollen 70 Prozent der Gastronomiebetriebe widerlichste Hygienemängel aufweisen (s. Leo Riegel in TITANIC 07/2022). Neben allerhand Schimmel, Schleim und Schmodder herrscht allüberall ein ernsthaftes Schadnagerproblem, die Küchen sind mit Mäusekot nicht nur kontaminiert, sondern praktisch flächendeckend ausgekleidet. Vor lauter Ekel hab ich sofort Herpes bekommen. Nun gehe ich vorhin in meine Küche, und auf der Arbeitsplatte liegen grob geschätzt 30 kleine schwarze Kügelchen. Ich bin sofort komplett ausgerastet! Zehn hysterische Minuten hat es gedauert, bis mir klar wurde, dass der vermeintliche Kot die Samen eines dekorativen Zierlauchs waren, der einen Blumenstrauß krönte, den eine liebe Freundin mir geschenkt hat. Ich hätte ihn einfach nicht noch einmal anschneiden sollen … Hysterie off, Scham on.

Martina Werner

 Liebesgedicht

Du bist das Ästchen,
ich bin der Stamm.
Du bist der Golo,
ich Thomas Mann.
Du bist Borkum,
ich bin Hawaii.
Du bist die Wolke,
ich bin gleich drei.
Du bist das Würmchen,
ich bin das Watt.
Du bist die Klinke,
ich bin die Stadt.
Du bist das Blättchen,
ich jetzt der Ast.
Sei still und freu dich,
dass du mich hast.

Ella Carina Werner

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.08.2024 Kassel, Caricatura-Galerie Miriam Wurster: »Schrei mich bitte nicht so an!«
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst Die Dünen der Dänen – Das Neueste von Hans Traxler
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst »F. W. Bernstein – Postkarten vom ICH«
09.08.2024 Bremen, Logbuch Miriam Wurster