Humorkritik | September 2023

September 2023

»Still ruhte wieder alles, und halbbewußt bat Kurtchen, es möge dabei bleiben; er hatte tatsächlich den Eindruck, er müsse beim nächsten Anfall von Humoristik sicher sterben.«
Stefan Gärtner, »Glanz und Elend des Kurtchen Sahne«

Warm dampft es heraus

Wenn ich richtig im Kopf habe, was der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler über den sogenannten »Midcult« schreibt – die künstliche Erhöhung des Gewichts von aktueller Literatur mittels »schwerer« Inhalte (»Zeichen«) bei zugleich banaler, einfältiger Form –, dann dürfte Timo Feldhaus’ im letzten Jahr erschienener Roman »Mary Shelleys Zimmer« (Rowohlt) ein stilbildendes Beispiel sein; wenn sich denn hier von Stil überhaupt reden lässt. Ihnen, geneigte Leserin, gnädiger Leser, sei die so kunterbunte wie bewusstlos dahinplappernde Nummernrevue, in der der 1815 ausgebrochene Vulkan Tambora (»Drei glühende Lavasäulen schossen in den Himmel, fielen wieder herab und verwandelten den Vulkanberg in ein Inferno aus Feuer«) das Weltklima beeinflusst und das Weltgeschehen verändert, als geradezu unerschöpfliche Fundgrube an Metaphern-Slapstick und rührend blödsinniger Promi-Introspektion empfohlen, in der alle, aber wirklich alle Zeitgenossen ihren Auftritt haben dürfen: Titelgeberin Mary, Percy Bysshe Shelley, Lord Byron, Madame de Staël, Caspar David Friedrich, Goethe (»Seine Drüsen und Sinne waren wieder aufgesperrt« / »Goethe war ja so unfassbar schlau, dass man es sich nicht ausdenken konnte«), Napoleon (»er furzte laut«), Beethoven (»der ja nicht mal mehr etwas hörte«), Schubert (»Schubert war in diesen Tagen im Zustand hemmungsloser Aktivität begriffen«) und Mary Shelleys Eltern, Mary Wollstonecraft und William Godwin (»Londoner, häufig knapp bei Kasse, dafür extrem interessant«). Nicht nur Wetterbedingungen werden hier leichthirnig beschrieben (»draußen stießen für Momente wirklich mikroskopische Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke«), auch die Botanik (»Früchte, die an blühenden Bäumen hingen«) kommt nicht zu kurz und nicht die menschliche Anatomie (»Doch unter der dünnen pergamentartigen Haut des Babys liegt ein Mechanismus, dessen Pendel einfach aufhören konnte zu schlagen«). Und jederzeit kann eine Tür aufgehen und noch jemand Neues hochverblüffend hereinspazieren, ausgestattet mit allen Fakten aus Google und Literaturlexikon: »Eine Tür ging auf und Friedrich Schlegel, der Jenas berühmtester und frühester Theoretiker des Romantischen war, die progressive Universalpoesie erfunden hatte und mittlerweile zum Katholizismus konvertiert war, brachte Byron ein Glas Rotwein.«

Es wäre einmal auszumessen, was Daniel Kehlmanns »Vermessung der Welt« so alles angerichtet hat. Die Erfolgsexplosion seines historisch-ironischen Humboldt-und-Gauß-Romans dürfte aufs Verlagsklima eine ähnliche Wirkung gehabt haben wie der unselige Vulkan Tambora aufs globale. Und kein Ende ist abzusehen: »Der Tambora ist weiterhin aktiv, manchmal dampft es warm aus ihm heraus« (Feldhaus).

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Kurze Anmerkung, Benedikt Becker (»Stern«)!

»Wer trägt heute noch gerne Krawatte?« fragten Sie rhetorisch und machten den Rollkragenpullover als neues It-Piece der Liberalen aus, v. a. von Justizminister Marco Buschmann und Finanzminister Christian Lindner, »Was daran liegen mag, dass der Hals auf die Ampelkoalition besonders dick ist. Da hilft so eine Halsbedeckung natürlich, den ganzen Frust zu verbergen.«

Schon. Aber wäre es angesichts des Ärgers der beiden Freien Demokraten über SPD und Grüne nicht passender, wenn sie mal wieder so eine Krawatte hätten?

Ebenso stilistisch versiert wie stets aus der Mode: Titanic

 Helen Fares, c/o »SWR« (bitte nachsenden)!

Sie waren Moderatorin des Digital-Formats MixTalk und sind es nun nicht mehr, nachdem Sie ein launiges kleines Video veröffentlicht haben, in dem Sie zum Boykott israelischer Produkte aufriefen, mit Hilfe einer eigens dafür programmierten App, die zielsicher anzeigt, wo es in deutschen Supermärkten noch immer verjudet zugeht (Eigenwerbung: »Hier kannst Du sehen, ob das Produkt in Deiner Hand das Töten von Kindern in Palästina unterstützt oder nicht«).

Nach Ihrem Rauswurf verteidigten Sie sich in einem weiteren Video auf Instagram: »Wir sind nicht antisemitisch, weil wir es boykottieren, Produkte von Unternehmen zu kaufen, die Israel unterstützen. Ein Land, das sich vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Genozid verantworten muss, weil es Zehntausende von Menschen abgeschlachtet hat.« Da sich aber auch Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Beihilfe zum Genozid verantworten muss, war Ihre Kündigung beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk ja ohnehin einvernehmlich, oder?

Kann es sich nicht anders vorstellen: Titanic

 Rrrrr, Jesus von Nazareth!

Rrrrr, Jesus von Nazareth!

Im andalusischen Sevilla hast Du eine Kontroverse ausgelöst, der Grund: Auf dem Plakat für das Spektakel »Semana Santa« (Karwoche) habest Du zu freizügig ausgesehen, zu erotisch, ja zu hot!

Tja, und wie wir das besagte Motiv anschauen, verschlägt es uns glatt die Sprache. Dieser sehnsüchtige Blick, der kaum bedeckte anmutige Körper! Da können wir nur flehentlich bitten: Jesus, führe uns nicht in Versuchung!

Deine Dir nur schwer widerstehenden Ungläubigen von der Titanic

 Könnte es sein, »ARD-Deutschlandtrend«,

dass Dein Umfrageergebnis »Mehrheit sieht den Frieden in Europa bedroht« damit zusammenhängt, dass seit über zwei Jahren ein Krieg in Europa stattfindet?

Nur so eine Vermutung von Titanic

 Prophetisch, »Antenne Thüringen«?

Oder wie sollen wir den Song verstehen, den Du direkt nach der von Dir live übertragenen Diskussion zwischen Mario Voigt und Björn Höcke eingespielt hast? Zwar hat der Thüringer CDU-Fraktionschef Höckes Angebot einer Zusammenarbeit nach der Wahl ausgeschlagen. Aber es wettet ja so manche/r darauf, dass die Union je nach Wahlergebnis doch noch machthungrig einknickt. Du jedenfalls lässt im Anschluss den Musiker Cyril mit seinem Remake des Siebziger-Lieds »Stumblin’ in« zu Wort kommen: »Our love is alive / I’ve fallen for you / Whatever you do / Cause, baby, you’ve shown me so many things that I never knew / Whatever it takes / Baby, I’ll do it for you / Whatever you need / Baby, you got it from me.« Wenn das nicht mal eine Hymne auf eine blau-schwarze Koalition ist!

Hätte sich dann doch eher »Highway to Hell« gewünscht: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Spielregeln

Am Ende einer Mensch-ärgere-dich-nicht-Partie fragt der demente Herr, ob er erst eine Sechs würfeln muss, wenn er zum Klo will.

Miriam Wurster

 Mitgehört im Zug

»Prostitution ist das älteste Gewerbe der Welt!« – »Ja, aber das muss es ja nicht bleiben.«

Karl Franz

 Altersspezifisch

Ich gehöre noch zu einer Generation, deren Sätze zu häufig mit »Ich gehöre noch zu einer Generation« anfangen.

Andreas Maier

 Frage an die Brutschmarotzer-Ornithologie

Gibt es Kuckucke, die derart hinterhältig sind, dass sie ihre Eier anderen Kuckucken unterjubeln, damit die dann fremde Eier in fremde Nester legen?

Jürgen Miedl

 Citation needed

Neulich musste ich im Traum etwas bei Wikipedia nachschlagen. So ähnlich, wie unter »Trivia« oft Pub-Quiz-Wissen gesammelt wird, gab es da auf jeder Seite einen Abschnitt namens »Calia«, voll mit albernen und offensichtlich ausgedachten Zusatzinformationen. Dank Traum-Latinum wusste ich sofort: Na klar, »Calia« kommt von »Kohl«, das sind alles Verkohl-Facts! Ich wunderte mich noch, wo so ein Quatsch nun wieder herkommt, wusste beim Aufwachen aber gleich, unter welcher Kategorie ich das alles ins Traumtagebuch schreiben konnte.

Alexander Grupe

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
23.05.2024 Bielefeld, Theaterlabor Max Goldt
24.05.2024 Dresden, Buchladen Tante Leuk Thomas Gsella
30.05.2024 Frankfurt, Museum für Komische Kunst »POLO«
30.05.2024 Frankfurt, Museum für Komische Kunst Hans Traxler: »Die Dünen der Dänen«