Humorkritik | Juli 2023

Juli 2023

»Es bringt nichts, die Weltlage mit Humor zu sehen.«
Joko Winterscheidt

Petzolds Rohmer-Himmel

In fünfzig Jahren hat der französische Autor und Regisseur Éric Rohmer ungefähr genauso viele Spielfilme gedreht. Gelangweilte Kritiker bemäkelten schon früher, er habe nur einen Film gedreht, immer denselben. Tatsächlich ähnelten sich viele – was den Vorteil hatte, dass jemand, der Rohmer-Filme mochte, sich jeden beliebigen anschauen konnte und ungefähr so verlässlich bedient wurde wie Liebhaber von Maigret-Romanen oder Scooter-Songs.

Rohmer (1920–2010) hat seine Filme gern Zyklen zugeordnet; Titel wie »Moralische Erzählungen« oder »Komödien und Sprichwörter« deuten auf die literarischen Elemente, die seine Filme verbinden: Erzählerstimmen, innere Monologe und lange, anspielungsreiche Dialogpassagen. Eine dieser Komödien, nämlich »Das grüne Leuchten« von 1986, treibt die Manier auf die Spitze: Angeblich gab es kein Drehbuch, und die Darsteller – selten Stars, häufig Laien – improvisierten nicht nur die Dialoge, sondern auch den Plot. Dieses »Grüne Leuchten« ist nur eine der Bezugsquellen von Christian Petzolds letztem Film »Roter Himmel«. Andere, von Heinrich Heine bis Uwe Johnson, gehen den Humorkritiker nichts an; auch der titelstiftende Waldbrand und die sich dahinter abzeichnende Klimakatastrophe fallen nicht in mein Fach.

Petzolds Ausgangssituation ist jedoch reiner Rohmer. Zwei Freunde wollen in einem Ferienhaus an der Ostsee ihre jeweiligen Projekte vorantreiben, Leon ist Schriftsteller, Felix Fotograf. Leon ist ein übergewichtiger Wichtigtuer, Felix sieht besser aus und ist einfach ein netter Kerl. Kompliziert wird die Lage dadurch, dass das Ferienhaus bereits belegt ist: Die liebenswerte Nadja jobbt als Eisverkäuferin im nächsten Badeort, ihr Liebhaber Devid ist an diesem Strandabschnitt als Rettungsschwimmer engagiert. Und eben dieser Devid erzählt beim gemeinsamen Abendessen einen Witz, der den Humorkritiker auf den Plan ruft. Der Witz ist als selbsterlebte Anekdote getarnt und viel zu lang, um hier nacherzählt zu werden, doch die Pointe gibt dem Film eine überraschende Wendung und transformiert den Rest allmählich zu einem Drama, das Opfer fordert und aus Leon einen richtigen Künstler macht – »richtig« zumindest aus Petzolds Sicht, der eine Wahrnehmung der Wirklichkeit fordert, die weit über Éric Rohmers dezidiert undramatische hinausgeht.

Eine Reverenz erweist Petzold seinem überwundenen Vorbild gegen Schluss dann doch noch: Das Meer leuchtet – und zwar viel schöner als bei Rohmer, der sich auch hier mit einer Andeutung begnügte.

  

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Halt, Stromanbieter Ostrom!

Du kannst uns noch so oft auf Insta mit den vielen »reasons to join ostrom« kommen, unsere Treue gehört dem einzig wahren Rom: Westrom!

In diesem Sinne vale und semper fi von Deiner Imperialtraditionalistin Titanic

 Unzufrieden, »Deutschlandfunk Kultur«,

sind einer Deiner Instagram-Kacheln zufolge knapp 20 Prozent der Jugendlichen. Vor allem Zukunftsängste machen ihnen zu schaffen. Als serviceorientierter Wohlfühlsender hast Du aber direkt eine praktische Lösung parat, wie den jungen Leuten geholfen werden könnte. Und zwar, indem man ihnen in der Schule sogenannte Selbstregulationskompetenzen beibringe. Gut geeignet seien demnach zum Beispiel Yoga und Atemübungen.

Die aufkommende Panik einfach wegmeditieren? Zugegeben: Bei der Hilflosigkeit, die beim Gedanken an Verarmung, Klimakatastrophe und Faschismus aufkommt, keine abwegige Idee. Trotzdem schiene uns »Selbstregulation« ein irgendwie spaßigeres Konzept zu sein, wenn Du, Deutschlandfunk, es den Jugendlichen anhand der Konten von Milliardär/innen oder anhand leerstehender Luxuslofts beibrächtest!

Deine Revoluzzerkids von Titanic

 Na, lange nichts von Ihnen gehört, Seehofer, Sie alte Schabracke!

Na, lange nichts von Ihnen gehört, Seehofer, Sie alte Schabracke!

Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung geben Sie Ihrer ehemaligen Chefin eine Mitschuld am Erfolg der AfD: »Ich finde, dass Angela Merkel sich keinen Zacken aus der Krone brechen würde, wenn sie mal erklärt: In der Migrationsfrage habe ich nicht jeden Tag richtig gelegen.« Nein, verkündeten Sie außerdem generös, Sie hätten »keine Triumphgefühle« ihr gegenüber, nur weil jetzt in der Flüchtlingspolitik »sehr viel von dem getan wird, was ich schon vor Jahren gefordert habe – und dafür von einigen sogar als Rechtsextremist beschimpft wurde«. Stattdessen spürten Sie nur »Genugtuung nach innen«. Natürlich: Stille, nach innen gerichtete Genugtuung posaunt man bekanntlich in die Süddeutsche … Aber wäre es nicht so oder so treffender gewesen, Sie hätten von einem »inneren Reichsparteitag« gesprochen?

Fragt Sie Ihre sprachpsychologische Praxis auf der Titanic

 Mal wieder typisch, Bundespolizei!

Du testest gerade den Einsatz von Tasern, hast Dir in einem vertraulichen Bericht aber eingestehen müssen, dass diese ihre Mannstoppwirkung oder gleich das ganze Ziel gerne mal verfehlen. Ein Grund für das Versagen der Taser ist wohl: eine »offene Softshell-Jacke«. Und das ist ja mal wieder typisch! Wer muss sich um Polizeigewalt in Taserform also keine Sorgen machen? Gutsituierte Krautwurst-Teutonen in ihren ewigen Softshell-Jacken! Komm, Bundespolizei, Rassismus kannst Du doch auch weniger auffällig, weiß aus anders gekleideter Quelle

Deine Titanic

 Und aber apropos, brigitte.de!

»Diese Angewohnheit schadet deinem Gehirn mehr, als du denkst« – eigentlich ist uns das als Vorlage zu billig. Aber schwer fällt uns der Verzicht schon!

Gewohnheitsmäßig nicht Deine Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Sprachchanges

Ist es Ihnen auch schon aufgefallen? Wir verwenden in der deutschen Sprache immer öfter Anglicisms.

Jürgen Miedl

 Ungenießbar

Zu Beginn der kalten Jahreszeit wird einem ja wieder überall Tee angeboten. Ich kann das Zeug einfach nicht trinken. Egal wie viel ich von dem brühheißen Wasser nachgieße, ich schaffe es einfach nicht, den Beutel im Ganzen herunterzuschlucken.

Leo Riegel

 Schattenseite des Longevity-Trends

Ob ich mit fast 60 noch mal Vater werden sollte? Puh, wenn das Kind 100 ist, bin ich schon 160!

Martin Weidauer

 Krass, krasser, Kasse

Wenn ich im Alltag mal wieder einen Kick suche, gehe ich kurz nach Feierabend oder samstags bei einem Discounter einkaufen. Finde ich dort eine richtig lange Kassenschlange vor, stelle ich mich nicht etwa an, sondern lege meine Einkäufe auf die nicht besetzte Kasse daneben. Hier beginnt der Nervenkitzel: Werde ich wie der letzte Idiot erfolglos auf die Öffnung der neuen Kasse warten oder wie ein allwissender Gott über den gewöhnlichen Einkäufern schweben? Mehr Spannung geht nicht. Anfängern rate ich allerdings, sich erst nach dem Schrillen, mit dem im Supermarkt Kollegen gerufen werden, an der leeren Kasse anzustellen. So kann man sich mit ein paar sicheren Erfolgen langsam an das freie Anstellen herantasten.

Karl Franz

 Bibelfest

Ich habe letztens geträumt, dass ich Teil einer christlichen Punk-Band war. Unser größter Hit: »Jesus muss sterben, damit wir leben können«.

David Sowka

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 28.10.:

    Das Schweizer Nachrichtenportal Watson preist den aktuellen Titel der Novemberausgabe im "Chat-Futter" an.

  • 03.10.: Der MDR kramt bei der Debatte, ob Ostdeutschland in den Medien schlechtgeredet wird, die Zonen-Gaby wieder hervor.
  • 26.09.:

    Noch-Grünenchefin Ricarda Lang retweetet "ihren" Onlinecartoon vom 25.09.

  • 18.09.: TITANIC-Zeichnerin Hilke Raddatz ("Briefe an die Leser") ist mit dem Wilhelm-Busch-Preis geehrt worden. Die SZLZ und der NDR berichten.
  • 12.09.:

    "Heute detoxe ich im Manager-Retreat im Taunus": TITANIC-Chefredakteurin Julia Mateus im Interview mit dem Medieninsider.

Titanic unterwegs
05.11.2024 Sylt, Feuerwache Tinnum Gerhard Henschel
05.11.2024 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview«
07.11.2024 Hamburg, Centralkomitee TITANIC-Boygroup mit Gsella, Sonneborn und Schmitt