Humorkritik | Juni 2022

Juni 2022

»Wenn jemand fragt, wo hört Satire auf, würde ich sagen, das weiß ich nicht – aber ich weiß, wo sie aufhört, verstanden zu werden: direkt hier, am Zaun von meinem Nachbarn.«
Gerhard Polt (80)

Die Marke Böttiger

Man kann über ein »Klinkenputzen mit dem Fahrrad« stutzen, sich über »saturierte Verkrustungen« belustigen und sich am »Café, das ein bisschen abseitig am Strand liegt«, stoßen. Aber vor allem kann man sich wundern, dass Helmut Böttiger auf den 470 Seiten seines Buchs über »Die Jahre der wahren Empfindung«, untertitelt »Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur« (Wallstein-Verlag), keine einzige Zeile übrig hat, weder für den seinerzeit Böll und Grass zur Trias rundenden Siegfried Lenz noch, viel ärger, für den auch zur vis comica begabten Peter Hacks. Dabei beweist Böttiger durchaus Sinn für den komischen Wüterich Thomas Bernhard oder den mit »Unterleibswitzn« aufwartenden Arno Schmidt, hat sogar eine Westberliner Autorenvereinigung namens ARSCH auf dem Notizzettel und weiß über den Gernegroß Grass, wenn er ihn schon nicht selbst auf Normalnull reduziert, so doch eine Annonce aus dem Göttinger Tageblatt von 1977 zu zitieren: »Geschafft! Nach zahlreichen Unterbrechungen durch mannigfaltige Erholungslektüre (Kołakowski, Chandler, Vilar, Bukowski, Haley, Jong, Sostschenko, Heine, 49 Stern-, 26 Spiegel-, 11 Pardon- und 4 Kicker-Ausgaben sowie 217 Tageszeitungen) ist es mir heute gelungen, den Butt zu Ende zu lesen. Kontakte unter F 2295 an das GT«.

Ironie hat Böttiger, das beweisen sanft boshafte Bildunterschriften wie »Peter Rühmkorf in einem seiner Aggregatzustände« oder »Thomas Bernhard beim Erhöhen der Betriebstemperatur«. An der Neuen Frankfurter Schule aber verhebt er sich – nur deshalb nicht, weil er es bei ein paar pflichtgemäß heruntergeleierten Fakten belässt und als Einzigen Eckhard Henscheid näherer Analyse für wert befindet – und auch bloß »Die Vollidioten«. Henscheid, stichelt Böttiger, hatte »früh begriffen, dass es darum ging, sich als eine Marke zu inszenieren.« Spät hingegen arbeitet der 1956 geborene Böttiger daran, sich als »geschliffenen Intellektuellen« auf dem Markt zu etablieren. Oder bloß zu inszenieren.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Gesundheit, Thomas Gottschalk!

In Ihrem Podcast »Die Supernasen« echauffierten Sie sich mit einem fast schon dialektischen Satz zu Ihrer eigenen Arbeitsmoral über die vermeintlich arbeitsscheuen jungen Leute: »Es gab für mich nie eine Frage – ich war nie in meinem Leben krank, wenn ich im Radio oder im Fernsehen aufgetreten bin. Ich habe oft mit Schniefnase irgendwas erzählt.«

Das hat bei uns zu einigen Anschlussfragen geführt: Wenn Sie »nicht krank«, aber mit Schniefnase und im Wick-Medinait-Delirium vor einem Millionenpublikum zusammenhanglose Wortfetzen aneinandergereiht haben – war das nicht eine viel dreistere, weil höher bezahlte Form der Arbeitsverweigerung als eine Krankmeldung?

Wünscht Ihnen nachträglich gute Besserung: Titanic

 Grüß Gott, Markus Söder!

Weil der bayerische AfD-Chef Sie wiederholt »Södolf« genannt hat und Sie ihn daraufhin anzeigten, muss dieser Ihnen nun 12 000 Euro wegen Beleidigung zahlen. Genau genommen muss er den Betrag an den Freistaat Bayern überweisen, was aber wiederum Ihnen zugutekommt. Ebenjener zahlt Ihnen ja die Honorare für freie Fotograf/innen, von denen Sie sich bei öffentlichen Anlässen gern begleiten und ablichten lassen. Im Jahr 2022 sollen sich die Kosten auf stolze 180 000 Euro belaufen haben.

Vorschlag: Wenn es Ihnen gelingt, die Prasserei für Ihr Image komplett durch Klagen gegen AfD-Mitglieder querzufinanzieren, stoßen wir uns weniger an Ihrem lockeren Umgang mit öffentlichen Geldern.

Drückt vorauseilend schon mal beide Augen zu: Titanic

 Hi, Daniel Bayen!

Sie sind sehr jung und waren mit Ihrer Firma für Vintage-Klamotten namens Strike vorübergehend sehr erfolgreich. Die ist jetzt pleite, machte aber zeitweise 2,9 Millionen Euro Umsatz. Der Bedarf war so groß, dass Correctiv-Recherchen zufolge sogar massenhaft Neuware zwischen die Secondhand-Bekleidung gemischt wurde. Auch Sie räumten demnach ein, gefälschte Ware geordert zu haben. Allerdings, so behaupten Sie, nur, um Ihren »Mitarbeitern zu zeigen, wie man gefälschte Ware identifiziert und aussortiert«.

Aber Bayen, Ihre Expertise besteht doch darin, neue Sachen auf alt zu trimmen. Also versuchen Sie bitte nicht, uns solche uralten Tricks zu verkaufen!

Recycelt Witze immer nach allen Regeln der Kunst: Titanic

 Wenn, Sepp Müller (CDU),

Bundeskanzler Olaf Scholz, wie Sie ihm vorwerfen, in einem »Paralleluniversum« lebt – wer hat dann seinen Platz in den Bundestagsdebatten, den Haushaltsstreitgesprächen der Ampelkoalition, beim ZDF-Sommerinterview usw. eingenommen?

Fragt die Fringe-Division der Titanic

 Du, »MDR«,

gehst mit einer Unterlassungserklärung gegen die sächsische Linke vor, weil die im Wahlkampf gegen die Schließung von Kliniken plakatiert: »In aller Freundschaft: Jede Klinik zählt.« Nun drohen juristische Scharmützel nebst entsprechenden Kosten für beide Seiten. Wie wäre es, wenn die Linke ihr Plakat zurückzieht und im Gegenzug nur eine einzige Klinik schließt? Die Ersparnisse dürften gewaltig sein, wenn die Sachsenklinik erst mal dichtgemacht hat.

Vorschlag zur Güte von Deinen Sparfüchsen von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Feuchte Träume

Träumen norddeutsche Comedians eigentlich davon, es irgendwann mal auf die ganz große Buhne zu schaffen?

Karl Franz

 Krasse Segregation

Wer bestimmten Gruppen zugehört, wird auf dem Wohnungsmarkt strukturell diskriminiert. Viele Alleinstehende suchen händeringend nach einer Drei- oder Vierzimmerwohnung, müssen aber feststellen: Für sie ist dieses Land ein gnadenloser Apartmentstaat, vor allem in den Großstädten!

Mark-Stefan Tietze

 Der kästnerlesende Kniebeuger

Es gibt nichts Gutes
Außer man Glutes.

Sebastian Maschuw

 Ein Lächeln

Angesichts der freundlichen Begrüßung meinerseits und des sich daraus ergebenden netten Plausches mit der Nachbarin stellte diese mir die Frage, welches der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen sei. Sie beantwortete glücklicherweise ihre Frage gleich darauf selbst, denn meine gottlob nicht geäußerte vage Vermutung (Geschlechtsverkehr?) erwies sich als ebenso falsch wie vulgär.

Tom Breitenfeldt

 Der kästnerlesende Bläser

Es gibt nichts Gutes
außer: Ich tut’ es.

Frank Jakubzik

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.08.2024 Kassel, Caricatura-Galerie Miriam Wurster: »Schrei mich bitte nicht so an!«
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst Die Dünen der Dänen – Das Neueste von Hans Traxler
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst »F. W. Bernstein – Postkarten vom ICH«
09.08.2024 Bremen, Logbuch Miriam Wurster