Humorkritik | Juli 2021
Juli 2021
»Es ist verblüffend, wenn man bedenkt, wie leicht es ist, sich gegenseitig mit Heiterkeit anzustecken, und wie trist und krank doch dagegen die Welt ist.«
Fabio Stassi
Aussteiger
Thomas Kunst ist eine Ausnahmeerscheinung im deutschen Literaturbetrieb. Er erscheint da nämlich nur ausnahmsweise. Die Kritik beschäftigt sich selten mit ihm, sein Publikum ist ein kleines. Aber eben auch feines, denn Kunst schreibt Gedichte und Geschichten, die aus dem Rahmen fallen und auf die man sich einlassen muss. Tut man’s, wird man mit viel Geist belohnt. Und auch mit Witz, weshalb sein neuer Roman »Zandschower Klinken«, erschienen bei Suhrkamp, auch in mein Ressort fällt.
Das bisschen Plot ist schnell erzählt: Nach dem Tod seines Hundes und der Trennung von seiner Frau entschließt sich Bengt Claasen, sein bisheriges Leben zurückzulassen, in sein Auto zu steigen und dort zu halten, wo das Hundehalsband vom Armaturenbrett rutscht. Er landet in Zandschow und damit in einer Gemeinschaft von Aussteigern, wo er viel Zeit findet, über sein Leben nachzudenken. Das alles wird aber nicht hübsch linear erzählt, nein, eigentlich wird es gar nicht erzählt: Kunst arbeitet mit Wiederholungen, Variationen, Perspektivwechseln, Auslassungen, Pausen, entwirft ein, zwei, viele Stimmungsbilder, immer wieder ähnlich und immer wieder neu: darunter skurrile Passagen, etwa das Simulieren einer Fahrt in einer überfüllten U-Bahn mittels eines ausrangierten Bauwaggons oder das Aussetzen von Plastikschwänen auf dem Wasser und das Nachahmen der Bewegungen der Schwäne durch die Bewohner an Land. Die humoristischen Stilmittel sind dabei zahlreich: die Doppeldeutigkeit (»Mein Aussteigen dauert Monate«), das Absurde (»Habe ich den fünften Stein im Kreis platziert, darf ich hierbleiben … Habe ich den siebzehnten Stein im Kreis platziert, muss ich zwölf Steine wieder rausnehmen«), das umständliche Ausmalen von Unzulänglichkeiten des Alltags (zu Wildwechsel-Warnschildern heißt es etwa: »Es gibt keine Statistiken, die belegen, wie genau es die Tiere mit der ihnen zur Verfügung gestellten Strecke nehmen, innerhalb derer sie den Wechsel der Straßenseite vorzunehmen haben«), die Imitation von Netztexten (»Ich habe mir ein Schnellverschlussbeutelchen kommen lassen. Sehr praktisch. Alles okay. Schnelle Lieferung«), das Paradoxon (»Um aus Zandschow rauszukommen, blieben sie in Zandschow«), die Lakonie (»Ich musste über so vieles nachdenken, weil ich den ganzen Tag keinen Handyempfang hatte« bzw. auch: »Den Feuerlöschteich könnte man auch getrost für keinen Feuerlöschteich halten«). Der Roman spricht über den Westen und den Osten, über die Gewinner und besonders über die Verlierer, über die Kindheit und über Abschiede und Neuanfänge. Wie Kunsts sonstiges Werk (das hiermit ebenfalls empfohlen sei) ist auch »Zandschower Klinken« lyrisch und musikalisch (im Anhang nennt der Autor seine musikalischen Inspirationen). Hineingewoben ist das Märchen »Brüderchen und Schwesterchen«, und es wird auch mal aus der Perspektive eines Rehs erzählt.
»Zandschow ist Sansibar«, schreibt Kunst, und nicht nur Alfred-Andersch-Leser werden hier die Sehnsucht nach einer Utopie wiedererkennen.