Humorkritik | August 2019

August 2019

Wir spielten in Dachzimmern Klavier mit Fingern, Fäusten und Armen und unterhielten uns prächtig. Die Stunden verflogen. In einer Pause hörten wir plötzlich die Kirchenglocken läuten. Es klang wie ein Witz.
Matthias Egersdörfer, »Vorstadtprinz«

König Egersdörfer

Die Mängel sind schnell aufgezählt, bringen wir sie gleich hinter uns: Matthias Egersdörfer kennt und benutzt zu viele Adjektive; er hat eine etwas anstrengende (und evtl. bühnenbedingte) Neigung, eben geschriebene Sätze variiert zu wiederholen, offenbar aus Angst, eine mögliche Pointe zu verpassen; und der Spaß, den man an Phrasen finden kann – »Meine Mutter wusste um deren Wirkmacht (die ihrer Brüste, Anm.) und richtete trotzdem rücksichtslos Verheerung mit den Dingern an« – ermüdet, wenn noch eine weitere nachgeschoben wird: »Kollateralschäden nahm sie billigend in Kauf«.

So. Jetzt zum Schönen. Denn die übrigen 97,9 % von »Vorstadtprinz. Roman meiner Kindheit« (Rowohlt Berlin) sind derart herrliche, rührende, komische Literatur, dass ich Ihnen, wenn Sie nur noch 14 Tage zu leben hätten, die Lektüre nahelegen würde – was Gescheiteres werden Sie nicht mehr zu tun haben, und auch das Vorbeiziehenlassen Ihres Lebens können Sie dann Egersdörfer überlassen, der kann das nämlich besser als Sie: von der eigenen Zeugung über die Babyzeit, als die »konsequente Zerlutschung der Welt« wichtigstes Ziel war (»Ich war wie besessen von dem Gedanken, meine Gliedmaßen durch Dauerbespeichelung selbständig aufzulösen«), zum kleinkindlichen Betrachten der Flugbahn einer Stubenfliege und zur Bewusstseinsbildung im Wurstgeschäft: »In derartigen Gedankenkähnen schlingerte ich über den ruhigen See der Selbstvergessenheit, bis schließlich die Pristownik die immer wiederkehrende, aber genauso immer wieder überraschende Frage stellte, ob ich eine Wurst haben wolle. Oft war ich derart in mich verstülpt, dass ich die Worte zwar hörte, aber ihre Bedeutung mir fern und fremd blieb. Ich erwachte mit einem kräftigen Ruck. Das Licht in dem Fleischgeschäft war hell, und alle Dinge, Menschen und Gegenstände zeichneten sich scharf und mit deutlichen Konturen ab.«

Dinge, Menschen, Gegenstände befinden sich im fränkischen Vorstadtidyll. Hier bäckt die Mutter, eine Frau »von enormem Sprech- und Brülldrang«, Mehlspeisen mit Salz, wenn kein Zucker verfügbar ist; hier fährt der Vater rückwärts mit dem Fahrrad, bis ihm die halbe Gasse nachläuft und die sportliche Sensation in einem spontanen Volksfest mit Blasmusik endet. Böse sind die Schwestern, innig geliebt wird die Großmutter, mit der sich der Enkel schaudernd Tierdokumentationen ansieht: »Die Omahandhaut war lose verlegt. Wenn ich mit Daumen und Zeigefinger ein kleines Stück von der Haut über ihrer Hand zusammenzwickte und vorsichtig nach oben zog, konnte ich ein kleines Omahandhautzelt bilden. Die Maximalhöhe war dann erreicht, wenn meine Großmutter leise ›au‹ sagte. So weit ließ ich es aber meistens nicht kommen, weil ich meine Oma sehr liebgehabt habe.«

Einen schlechteren Autor würden solche erinnerungspsychologischen Kindlich- und Befindlichkeiten wohl zu grellen zeitgeschichtlichen Kontrasten verleiten. Egersdörfer ist subtil: Unruhen und Polizeigewalt werden hier mit Playmobil nachgespielt, wobei so ausufernd geschossen, entführt und eingesperrt wird, dass man errät, welche Themen am Mittagstisch besprochen werden, und auch das schwere Thema Antisemitismus kommt auf leichten Füßen angetappt bzw. rückwärts durch die Oma: »Schau, das ist der Hans Rosenthal, der ist ein Jude. Du musst wissen, die Juden sind uns Christenmenschen haushoch überlegen. Das ist historisch bedingt. Die Juden waren ursprünglich ein Nomadenvolk und sind in der Wüste herumgelaufen. (…) Für die kleinste Tasse Cappuccino hat dieses Volk enorme Leistungen aufbringen müssen. Deswegen sind die alle so pfiffig.«

So anschaulich muss man erst einmal formulieren können: »Wir sprangen gleichzeitig durch alle vier Türen in den Renault, der vor dem Haus parkte, sodass das grüne Auto sich ächzend hinkniete.« Oder auch so: »… eine Zigarre geraucht, bis die so kurz war wie der Schwanz eines Mopses.« Oder: »Die Rosen standen ausgemergelt daneben wie alte Damen, die zu viel Sport machen und nur so viel aßen, wie auf einem kleinen Unterteller Platz hat.« Apropos Essen: »Schokoladenkuchen war eine beschönigende Bezeichnung für das tiefschwarze, längliche Brikett. Die einzelnen Stücke mussten heruntergesägt werden. Unmengen Spucke waren notwendig, um das ausgetrocknete Backwerk im Mund aufzulösen und anschließend zu schlucken, ohne dass man sich dabei im Hals verletzte.« Sprachfreude und Lachen wechseln sich ab, ewig aber wogt der Krieg: »Die Mutter und die Großmutter hatten den Waffenstillstand beendet und begannen wieder mit den üblichen Scharmützeln. Ein öffentlicher Kriegsschauplatz war das hölzerne Postament im Erdgeschoss neben der Treppe. Hier wurden Stapel von Wechselgeld platziert, um dem Gegner wahlweise Kleinlichkeit oder Betrug zu unterstellen. Genau gesagt handelte es sich um geringe Pfennigbeträge vom sogenannten ›Rausgeld‹, welches die Großmutter von der Mutter zurückerhielt, wenn sie sich nach Vorstreckung des angenommenen Kaufpreises von der Tochter aus der Stadt etwas hatte mitbringen lassen. Über die Höhe dieses Betrags stritten die beiden Parteien ohne Gnade. Die Auseinandersetzung wurde zusätzlich mit kleinen Zetteln geführt, auf denen Differenzbeträge aus erhaltenem Geld, Rückgeld und angeblichen, angezweifelten und eisern verteidigten Produktpreisen mit Prosazeilen der Schmähung hin und her geschoben wurden: Las die Mutter neueste Rechnungs- und Richtigstellungen der Großmutter, dann trampelte sie polternd und fluchend in den ersten Stock hinauf und ließ die Türen knallen. Wenn die Großmutter mit ihrer Brille die neuen Unverschämtheiten der Tochter entziffert hatte, zog sie sich entrüstet schnaufend zurück und schlug die Holztür mit größerem Schwung als sonst hinter sich ins Schloss.«

Nirgends aber habe ich kindliche Begeisterung, Verrat und Enttäuschung zartherziger beschrieben gefunden als in der Episode auf Seite 87 ff., da die bösen Schwestern den kleinen Bruder zu einem Brettspiel locken, dem sogenannten »Gänsespiel«, und wenn Sie sich jetzt immer noch weigern, den »Vorstadtprinz« zu kaufen und durchzulesen, dann lese ich Ihnen diese Passage eben auch noch in voller Völle vor; aber ich merke schon, Sie sind einsichtig.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hallihallo, Michael Maar!

In unserem Märzheft 2010 mahnte ein »Brief an die Leser«: »Spannend ist ein Krimi oder ein Sportwettkampf.« Alles andere sei eben nicht »spannend«, der schlimmen dummen Sprachpraxis zum Trotz.

Der Literatur- ist ja immer auch Sprachkritiker, und 14 Jahre später haben Sie im SZ-Feuilleton eine »Warnung vor dem S-Wort« veröffentlicht und per Gastbeitrag »zur inflationären Verwendung eines Wörtchens« Stellung bezogen: »Nein, liebe Radiosprecher und Moderatorinnen. Es ist nicht S, wenn eine Regisseurin ein Bachmann-Stück mit drei Schauspielerinnen besetzt. Eine Diskussionsrunde über postmoderne Lyrik ist nicht S. Ein neu eingespieltes Oboenkonzert aus dem Barock ist nicht S.«

Super-S wird dagegen Ihr nächster fresher Beitrag im Jahr 2038: Das M-Wort ist ja man auch ganz schön dumm!

Massiv grüßt Sie Titanic

 Ganz schön unentspannt, Giorgia Meloni!

Ganz schön unentspannt, Giorgia Meloni!

Nachdem Sie eine Klage wegen Rufschädigung eingereicht haben, wird nun voraussichtlich ein Prozess gegen den britischen Rockstar Brian Molko eingeleitet. Dieser hatte Sie bei einem Konzert seiner Band Placebo in Turin als Nazi und Faschistin bezeichnet.

Wir finden, da könnten Sie sich mal etwas lockermachen. Wer soll denn bitte noch durchblicken, ob Sie gerade »Post-«, »Proto-« oder »Feelgood-« als Präfix vor »Faschistin« bevorzugen? Und: Wegen solcher Empflichkeiten gleich vor Gericht zu gehen, kostet die Justiz so viel wertvolle Zeit. Die könnte sie doch auch nutzen, um Seenotretter/innen dingfest zu machen oder kritische Presse auszuschalten. Haben Sie darüber schon mal nachgedacht, Sie Snowflake?

Schlägt ganz gelassen vor: Titanic

 Ganz schön kontrovers, James Smith,

was Du als Mitglied der britischen Band Yard Act da im Interview mit laut.de vom Stapel gelassen hast. Das zu Werbezwecken geteilte Zitat »Ich feiere nicht jedes Cure-Album« hat uns jedenfalls so aufgewühlt, dass wir gar nicht erst weitergelesen haben.

Wir mögen uns nicht ausmalen, zu was für heftigen Aussagen Du Dich noch hast hinreißen lassen!

Findet, dass Provokation auch ihre Grenzen haben muss: Titanic

 Bild.de!

»Springer hatte im Januar bundesweit für Entsetzen gesorgt«, zwischentiteltest Du mit einem Mal überraschend selbstreferenziell. Und schriebst weiter: »Nach der Enthüllung des Potsdamer ›Remigrations‹-Treffens von AfD-Politikern und Rechtsextremisten postete Springer: ›Wir werden Ausländer zurückführen. Millionenfach. Das ist kein Geheimnis. Das ist ein Versprechen.‹« Und: »In Jüterbog wetterte Springer jetzt gegen ›dahergelaufene Messermänner‹ und ›Geld für Radwege in Peru‹«.

Dass es in dem Artikel gar nicht um Dich bzw. den hinter Dir stehenden Arschverlag geht, sondern lediglich der Brandenburger AfD-Vorsitzende René Springer zitiert wird, fällt da kaum auf!

Zumindest nicht Titanic

 Chillax, Friedrich Merz!

Sie sind Gegner der Cannabislegalisierung, insbesondere sorgen Sie sich um den Kinder- und Jugendschutz. Dennoch gaben Sie zu Protokoll, Sie hätten »einmal während der Schulzeit mal einen Zug dran getan«.

Das sollte Ihnen zu denken geben. Nicht wegen etwaiger Spätfolgen, sondern: Wenn ein Erzkonservativer aus dem Sauerland, der fürs Kiffen die Formulierung »einen Zug dran tun« wählt, schon in der Schulzeit – und trotz sehr wahrscheinlichem Mangel an coolen Freund/innen – an Gras kam, muss dann nicht so ziemlich jedes andere System besseren Jugendschutz garantieren?

Sinniert

Ihre Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Altersspezifisch

Ich gehöre noch zu einer Generation, deren Sätze zu häufig mit »Ich gehöre noch zu einer Generation« anfangen.

Andreas Maier

 In Würde altern

Früher hätte mich der riesige Pickel mitten auf meinem Hals stark gestört. Heute trage ich den wohl niedlichsten ausgeprägten Adamsapfel, den die Welt je gesehen hat, mit großem Stolz ein paar Tage vor mir her.

Ronnie Zumbühl

 100 % Maxx Dad Pow(d)er

Als leidenschaftlicher Kraftsportler wünsche ich mir, dass meine Asche eines Tages in einer dieser riesigen Proteinpulverdosen aufbewahrt wird. Auf dem Kaminsims stehend, soll sie an mich erinnern. Und meinen Nachkommen irgendwann einen köstlichen Shake bieten.

Leo Riegel

 Citation needed

Neulich musste ich im Traum etwas bei Wikipedia nachschlagen. So ähnlich, wie unter »Trivia« oft Pub-Quiz-Wissen gesammelt wird, gab es da auf jeder Seite einen Abschnitt namens »Calia«, voll mit albernen und offensichtlich ausgedachten Zusatzinformationen. Dank Traum-Latinum wusste ich sofort: Na klar, »Calia« kommt von »Kohl«, das sind alles Verkohl-Facts! Ich wunderte mich noch, wo so ein Quatsch nun wieder herkommt, wusste beim Aufwachen aber gleich, unter welcher Kategorie ich das alles ins Traumtagebuch schreiben konnte.

Alexander Grupe

 Back to Metal

Wer billig kauft, kauft dreimal: Gerade ist mir beim zweiten Sparschäler innerhalb von 14 Tagen die bewegliche Klinge aus ihrer Plastikaufhängung gebrochen. Wer Sparschäler aus Kunststoff kauft, spart also am falschen Ende, nämlich am oberen!

Mark-Stefan Tietze

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
05.05.2024 Bonn, Rheinbühne Thomas Gsella
05.05.2024 Magdeburg, Factory Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
06.05.2024 Hannover, Pavillon Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
06.05.2024 Hamburg, Centralkomitee Ella Carina Werner