Humorkritik | August 2019

August 2019

Wir spielten in Dachzimmern Klavier mit Fingern, Fäusten und Armen und unterhielten uns prächtig. Die Stunden verflogen. In einer Pause hörten wir plötzlich die Kirchenglocken läuten. Es klang wie ein Witz.
Matthias Egersdörfer, »Vorstadtprinz«

Berge der Eitelkeit

Im berühmten Beispiel aus der Biologie wird die Kröte von einem »ungerichteten Appetenzverhalten« aus dem sicheren Teich und in die Wildnis getrieben. Sie hat Hunger, weiß es aber noch nicht. Sobald allerdings kreuchende Beute ihren Weg kreuzt, dämmert der Amphibie ihr eigenes Bedürfnis: Ihr Gehopse hat nun einen Zweck, ihr Appentenzverhalten ist gerichtet. Was aber der Kröte das Krabbeltier, ist dem Humorkritiker die vermeintliche Geistesgröße, die bei ungebrochenem Selbst- und Sendungsbewusstsein nichts mehr zu melden hat, die Gedanken aber dennoch in intellektueller Inkontinenz nur so aus sich herauspladdern lässt.

2012 publizierte Peter Sloterdijk mit »Zeilen und Tage« (Suhrkamp) auf mehr als 600 Seiten persönliche Notizen und Journale. Jetzt pladdert er mit »Neue Zeilen und Tage« weiter, und wie schon im Vorgängerwerk sind des Meisters Selbstgespräche auf beinahe jeder Seite ein Quell großer versehentlicher Komik. Zunächst entzückt das professorale Gestelze, mit dem Peter Sloterdijk sich fortwährend selbst dabei zusieht, Peter Sloterdijk zu sein, etwa in Abu Dhabi, dieser »letzten utopischen Enklave der Erde«, wo der Redner gleichmütig hinnimmt, ein von Scheichs gebuchtes Gimmick zu sein. Oder in Modena, wo er gegenüber zudringlichen Journalisten »Antworten wie Schuppen von trockener Kopfhaut« absondert und seine Open-Air-Rede auf der Piazza Grande von einem Klarinettenspieler übertönt wird. Sloterdijk in Kalifornien, wo er als Vertreter »der weißen Wissenschaften« von einem »farbigen Beschwerdeführer« bezichtigt wird, in seinem Vortrag über Napoleon dessen Verhältnis zur Sklaverei nicht erwähnt zu haben: »Ich nahm mir erneut die Freiheit, beim Gegenstand zu bleiben«. Die Pose des pikierten Bescheidwissers legt er auch zu Hause nicht ab: Da sieht man ihn dann vor dem Fernseher das zauselige Haupt schütteln, die »Verzwergung« Europas beseufzen und die »Verhässlichung« der USA, über das Finanzamt räsonieren, die Migrationspolitik oder Sozialdemokraten, diese »Anästhesisten der Unterschichten«. Selten hat man einen so unverstellten Blick auf so gewaltige Eitelkeiten: Beim Schreiben eines Librettos fühlt sich Sloterdijk wie Wagner oder Verdi, bei der Uraufführung misst er die Dauer der Ovationen – um danach wohlwollend die wohlwollenden Rezensionen der Feuilletons zu rezensieren. Besonders hübsch, weil anrührend, wenn im Ressentiment die Hilflosigkeit des Belesenen sichtbar wird. Zu Judith Butler fällt ihm ein: »Wer Judith heißt, findet überall einen Holofernes«. Nach einem Frühstück mit Ulrich Beck notiert er: »Das Angenehme an ihm ist, dass er dir seine Polemiken gegen dich nicht nachträgt«. Und Steigbügelhalter Carl Schmitt ist für ihn, why not, ein »Friseur an der metaphysischen Perücke Hitlers«.

Beinahe liebenswert wirkt es, wenn Sloterdijk ins Staunen kommt. Sei es über sich selbst, wie er als vom Jetlag geplagtes Gespenst über einen US-Campus schleicht, sei es, wenn er in einem österreichischen Museum eine mittelalterliche Waschmaschine für Kettenhemden entdeckt: »Unbeschreiblich die Freude!«

Sie sei hiermit geteilt.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ach, Andrea Munkert,

da bezahlt Sie das Nürnberger Stadtmarketing dafür, vom innerstädtischen Elend abzulenken und eine verschnarchte Ecke namens Weinmarkt in himmlische Höhen zu loben – und was tun Sie? Sie schreiben: »Nürnberg – Während in den Einkaufsstraßen in der Innenstadt der Leerstand jault, pulsiert in einem neugestalteten Altstadt-Quartier das pralle Leben. Der Weinmarkt ist erwacht, erblüht – und so ganz anders als der Rest der Altstadt.«

Jaulender Leerstand – wer kennt’s nicht vom Besuch quasi jedweder Innenstadt? Wie ebenfalls üblich schläft der Rest der Altstadt, verwelkt, ja verdorrt gar krachend. Und wenn man genau hinhört, grunzt da nicht auch ein wenig die Aufenthaltsqualität? Aber wenn erst die Mieterhöhung singt und die Immobilienspekulation trommelt, dann ist die Stadt sicherlich wieder hellwach.

Heult still in sich hinein: Titanic

 Tagesschau.de!

»Sei nicht immer so negativ!« wollten wir Dir schon mit auf den Weg geben, als Du vermeldetest: »Juli stellt knapp keinen Temperaturrekord auf«. Auf Schlagzeilen wie »Zehnkämpfer Leo Neugebauer erringt in Paris knapp keine Goldmedaille«, »Rechtsextremer Mob erstürmt im nordenglischen Rotherham knapp kein potentiell als Asylunterkunft genutztes Hotel« oder »19jähriger Islamist richtet bei Taylor-Swift-Konzerten in Wien knapp kein Massaker an« hast Du dann aber doch verzichtet.

Es gibt sie also noch, die positiven Nachrichten.

Vor allem von Titanic

 Hello, tagesschau.de!

All Deinen Leser/innen, die von Tim Walz, der für die US-Demokraten als Vizekandidat in den Wahlkampf ziehen soll, bisher noch nicht allzu viel gehört hatten, wusstest Du doch immerhin zu berichten, er sei ein ehemaliger »Lehrer und gilt als einer, der die einfache Sprache der Menschen spricht«. Und nichts für ungut, tagesschau.de, aber dass ein Kandidat im US-Wahlkampf, ein einstiger Lehrer zudem, Englisch spricht, das haben selbst wir uns schon beinahe gedacht.

Deine einfachen Menschen von Titanic

 Kunststück, »Welt«!

Im Interview mit der Rheinischen Post beschwerte sich Sängerin Cyndi Lauper darüber, dass Frauen ständig auf ihr Alter reduziert würden. Aus diesem Statement hast Du, Welt, nicht nur geschafft, einen ganzen Artikel zu stricken, Du hast auch noch äußerst subtil Deinen eigenen Standpunkt zur Causa klargemacht und Laupers Aussage folgendermaßen zusammengefasst: »Popsängerin Cyndi Lauper hält es für sexistisch, Frauen nach ihrem Alter zu fragen: ›Alter ist eine Kategorie, die benutzt wird, um uns kleinzuhalten‹, sagte die 71jährige.«

Wie clever von Dir! Indem Du das Alter genüsslich anmerkst, hast Du es der meckernden alten Frau aber mal so richtig gezeigt! Andererseits: Es nötig zu haben, aus Interviews anderer Zeitungen Artikel zusammenzukloppen – lässt das nicht Dich und Deinen angeblichen journalistischen Anspruch auch ziemlich alt aussehen?

Fragt Dein greises Kollegium von Titanic

 Was soll das, Ameisen?

Was soll das, Ameisen?

Wie Forscher/innen herausfanden, seid Ihr in der Lage, bei Artgenossinnen Beine durch Abbeißen zu amputieren, um so tödliche Infektionen zu vermeiden. Chirurgische Eingriffe! Geht’s noch? Habt Ihr Euch mal überlegt, wie es uns damit geht? Als Spezies, die für ihren jetzigen Stand in der Medizin Jahrtausende an Forschung gebraucht hat?

Fragt pikiert die Krone der Schöpfung auf der Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Steinzeitmythen

Fred Feuerstein hat nie im Steinbruch gearbeitet, er war Rhetoriker! Er hat vor 10 000 Jahren zum Beispiel den Whataboutism erfunden und zu seiner Losung erhoben: »Ja, aber … aber du!«

Alexander Grupe

 Wahre Männer

Auto verkauft, weil das gute Olivenöl zu teuer geworden ist.

Uwe Becker

 Meine Mitbewohnerin

legt Dinge, die nicht mehr so ganz intakt sind, in Essig ein. Dabei ist es egal, ob es sich um verkalkte, schmutzige oder verschimmelte Dinge handelt. Ich würde bei ihr den Verbrauch von Salzsäure in den kommenden Jahren intensiv beobachten – gerade falls ihr Partner unerwarteterweise verschwinden sollte.

Fia Meissner

 Aus einer Todesanzeige

»Wer sie kannte, weiß was wir verloren haben.« Die Kommasetzung bei Relativsätzen.

Frank Jakubzik

 Europa aphrodisiakt zurück

Wenn es hierzulande etwas im Überfluss gibt, dann verkalkte Senioren und hölzerne Greise. Warum also nicht etwas Sinnvolles mit ihnen anfangen, sie zu Pulver zerreiben und in China an Tiger gegen Schlaffheit der Genitalien verkaufen?

Theobald Fuchs

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 12.09.:

    "Heute detoxe ich im Manager-Retreat im Taunus": TITANIC-Chefredakteurin Julia Mateus im Interview mit dem Medieninsider.

Titanic unterwegs
13.09.2024 Stade, Schwedenspeicher Ella Carina Werner
14.09.2024 Frankfurt, Museum für Komische Kunst Bernd Pfarr: »Knochenzart«
16.09.2024 Wiedensahl, Wilhelm-Busch-Geburtshaus Hilke Raddatz mit Tillmann Prüfer
17.09.2024 Stadthagen, Wilhelm-Busch-Gymnasium Wilhelm-Busch-Preis Hilke Raddatz mit Bernd Eilert