Müters Söhne #23
Survival
"Ich hatte so Hunger"
Henry ist 12 Jahre alt. Seine Mutter Viola Müter schreibt hier im wöchentlichen Wechsel über ihn und ihre anderen zwei Söhne im Alter von 5 und 17 Jahren. Die Mutter nennt sie liebevoll ihre "Mütersöhnchen".
Henrys Gesicht ist tränenüberströmt, als er sonntagmorgens von außen an die Terrassentür klopft. "Ich habe sie erschossen." Mein Blick fällt auf den toten Nachbarshund in seinem Arm. Ich gebe zu: Das passt mir gar nicht in den Kram. Unser Nachbar liebt seine Jack-Russell-Dame über alles. Ihren tatsächlichen Namen kenne ich nicht. Wenn der Nachbar von der Hündin schwärmt, nennt er sie immer nur seine "Perle". Was ich aber sicher weiß: Wenn er erfährt, dass Henry die Perle erschossen hat, war es das mit unserer guten Beziehung. Dann stellt er sicher nicht mehr unsere Mülltonnen auf die Straße und später wieder in die Garage.
Die tote Perle lässt mich zweifeln. Ist es die richtige Entscheidung gewesen, Henry allein im Garten zelten zu lassen? Er interessiert sich aktuell sehr für Survival, also für das Überleben fernab der Zivilisation. Fürs Jagen aber ganz besonders. Es gibt einen Tiktoker, den er intensiv verfolgt. Der erklärt ihm, wie er sich in der freien Natur Nahrung beschaffen kann, zum Beispiel im Amazonas-Regenwald. "Dort hat er nur mit einem angespitzten Bleistift einen Jaguar erlegt." Henry war schon immer sehr leichtgläubig. Bis vor kurzem glaubte er noch, Mütter lieben alle ihre Kinder gleich.
Ich habe schon oft gehört, dass es viele Menschen wie Henrys Tiktoker gibt. Für mich wäre das nichts. Ich liebe Wasser mit Kohlensäure und Datteln im Speckmantel. Wenn ich richtig informiert bin, lässt sich beides nicht mit selbstgeschnitztem Pfeil und Bogen erbeuten. Offenkundig finde ich es gut, wenn Henry lernt, selbstständiger zu werden. Ich glaube nur, dass andere Fähigkeiten in seiner aktuellen Lebensphase sinnvoller wären. Zum Beispiel regelmäßig sein Zimmer zu lüften.
Abends beobachtete ich, wie Henry etwas Granitsplitt aus meinem Steinbeet sammelte. Er versuchte anscheinend, eine Steinaxt herzustellen. Ein paar Stunden später schlug er damit mehrmals auf einen Maulwurfshügel ein. Na gut, dachte ich, wenn das Ergebnis seines Survivaltrainings ein toter Maulwurf sein würde, hätten ja alle etwas davon. Niemals hätte ich aber damit gerechnet, am nächsten Morgen von einem Schuss geweckt zu werden. "Ich hatte so Hunger", gesteht Henry schluchzend. In unserem Keller befindet sich ein Luftgewehr. Mein Mann hat es früher zur Abschreckung benutzt, wenn unangekündigt Gäste kamen.
In diesem Moment wird mir klar, dass Henry wichtige Informationen fehlen. Zum einen befindet sich in dem Luftgewehr seit der Sache mit Alec Baldwin keine Munition mehr. Zum anderen erzählte mir der Nachbar kürzlich, dass seine Perle sehr alt sei und an Bluthochdruck leide. Ich taste die Hündin nach einer Einschusswunde ab. Fehlanzeige. Erleichtert atme ich aus. Die Perle ist mit hoher Wahrscheinlichkeit an einem Herzinfarkt gestorben. Ich fordere den aufgelösten Henry auf, die tote Hündin unter einem Laubhaufen im Garten des Nachbarn zu verstecken. Die Wahrheit verschweige ich ihm. Sein nächstes Survivalwochenende wird er freiwillig im Tropenhaus verbringen.
Die Kolumne von Viola Müter erscheint jeden Donnerstag nur bei TITANIC.
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