Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Vatis Fragen
Ich war ja neulich schon mal fast einverstanden, mindestens versuchsweise oder theoretisch, aber das ist ja, mit Benn, immer das Problem, daß man zwar Arbeit hat, aber nicht dumm ist. Oder jedenfalls nicht dumm genug, nämlich so dumm, am Bahnhofskiosk die „ekelhafte Abiturientenzeitschrift Neon“ (d. Verf. 2013) zu kaufen und einverstanden durchzulesen, statt wieder mal nur im Bahnmagazin entsetzt das Cover von der Neon-Reklame runterzufotografieren: „Sommer jetzt! Wohin wir fahren (Sylt), was wir tragen (Bikini), was wir lieben (Fahrräder)“.
Achach.
Ich bin ja immer ein großer Verehrer dieser perfiden Ranwanz-Pseudofragetechnik gewesen, wie sie Neon zur Perfektion getrieben hat: „Wohin führt mich das Leben? Nie war die Antwort ungewisser. Wie wir lernen, uns trotzdem für den richtigen Weg zu entscheiden“, und wenn an dieser Stelle neulich erst vom Zeit-Studienführer die Rede war, der sich gar nicht mehr an die angehenden Damen und Herren Studenten, sondern an deren Eltern wendet, dann hat Neon dieses bereits jugendliche Sichfügen in ein Leben als ewiges, niemals zu überwindendes Abhängigkeitsverhältnis präformiert.
„Und wenn du keine Antwort hast: / Stolz auf die offenen Fragen.“ Flowerpornoes, 1994
Denn die Fragen, die hier so unaufhörlich aufs Publikum niederregnen, sind ja im Ernst gar keine, allein schon des autoritär-vereinnahmenden, aufs zynischste verschleimten „wir“ wegen. „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“ lautet bekanntlich Kants zentraler Fragenkatalog, wie ein Wir ohne Ich ja bloß Faschismus ist. Auch die Stelle aus dem Kommunistischen Manifest wird ja gern falsch zitiert, weil der Realsozialismus es auf dem Weg zur freien Assoziation nur bis zum Kollektiv geschafft hat: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ – und nicht etwa umgekehrt. Die freie Entwicklung eines jeden ist die Voraussetzung für das freie Ganze. (Daß mit dieser freien Entwicklung nicht die Freiheit zum SUV-Fahren gemeint ist, sondern eine, die Unerpreßbarkeit zur Voraussetzung hat, sei hier nicht noch mal ausgeführt.)
„Was soll ich tun?“ ist eine gute und vollauf legitime Frage, noch in der Leninschen Verkürzung: „Was tun?“ Wohin mich mein Leben führt, ist als Frage dagegen wieder unvergleichlich verkehrt, denn wenn ich das erst einmal akzeptiert habe, daß mein Leben mich führt und nicht ich mein Leben, ist die Voraussetzung schon falsch und gibt es nichts mehr zu lernen. Außer vielleicht, daß eine „richtige Entscheidung“, „uns“ betreffend, wieder nur eine vorgekaute ist, idealerweise von Leuten, für die ich Kunde bin und bleiben soll und sonst gar nichts.
„Wohin wir fahren (Sylt), was wir tragen (Bikini), was wir lieben (Fahrräder)“ – „wer ist wir? Ich sicher nicht!“ (Polt). Dafür alle anderen, die nichts dagegen haben, daß Vati entscheidet, wohin es in den Urlaub geht. Und zwar jedes Jahr. Für immer.
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