Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Sieger
Vergangene Woche verteidigte im Sonntagsblatt der Altherrenkolumnist Klute den Altherrenkolumnist Martenstein, also eine Krähe die andere, falls das nicht krähendiskriminierend ist. Ich hab es nicht gelesen; man muß ja nicht tiefer in den Dreck fassen als beruflich nötig. Es ist dies nämlich auch eine Frage der mentalen Reserven, und als ich bei den Kollegen und Kolleginnen der Zürcher WOZ las, im zentralamerikanischen El Salvador sei es, unter dem wie stets seligen Einfluß der katholischen Kirche, Rechtspraxis, Fehlgeburten als (verbotenen) Schwangerschaftsabbruch zu werten und Frauen, die ihr Kind verloren haben, für Jahrzehnte wegen Mordes (!) ins Gefängnis zu stecken, war mein Maß eigentlich schon voll; plus ein paar Zeilen Erdogan, der Kollegen von mir gleich lebenslang in Isolationshaft schicken läßt, und dann geht es eigentlich schon nicht mehr.
Und so ist man geradezu dankbar, wenn das Tagesgeschäft Wahnsinn bereithält, zu dem einem wenigstens noch etwas einfällt. In Essen hat der Betreiber einer sog. Tafel sein Angebot für Nichtdeutsche gesperrt, gar nicht mal, sagt er, aus Ausländerfeindschaft, sondern um dem Andrang irgendwie Herr zu werden und weil die „deutsche Oma“ sich zwischen den migrantischen Männern, deren Zahl zuletzt sprunghaft gestiegen sei, aber doch auch fürchte. Fällt derlei vor, ruft das Morgenblatt verläßlich „den einzigen der hilft“ an die Tastatur, „der sprengt die Ketten fegt auf trümmerstätten / Die Ordnung, geisselt die verlaufnen heim / Ins ewige recht, wo grosses wiederum gross ist“ (Stefan George): „Das Problem besteht nicht nur darin, daß die Tafel in Essen auf anfechtbare Weise den großen Andrang zu sortieren versucht. Das Problem besteht darin, daß die Tafeln per se einen Zustand der staatlichen Unterversorgung perpetuieren und einer Gesellschaft, die massenhaft Lebensmittel wegwirft, ein gutes Gewissen verschafft; der Staat sieht zu, wie sich die Armen und Bedürftigen an den Tafeln drängen – und diese Tafeln müssen dann die Konkurrenz der Bedürftigen ausbaden.“ Tafeln seien „eine Schande für den Sozialstaat“, den der Doktor Prantl vor ein paar Jahren noch etwas präziser „Almosenstaat“ genannt hat.
„ … dann aber hat / das Hohle jener Formen dich geschreckt, / du griffst hinein und schöpftest Leere / und beklagtest dich. … Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.“ Rilke, 1908
Lustiger- oder womöglich infamerweise darf direkt nebenan Kollege Schoepp, der an dieser Stelle schon einmal auffällig geworden ist, weil er seinen Kapitalismus „mit neuen Werten und Verhaltensweisen anreichern“ wollte, um „die soziale Marktwirtschaft … zu bewahren“, sich die „Welt von morgen“ ausmalen, in der es, bewahre, nicht mehr links gegen rechts geht, sondern „ein neuer Dualismus“ zu bestaunen sei, „nämlich der zwischen einem im weitesten Sinne liberalen und einem identitären Lager“: „Das ist eine direkte Folge des Sieges der freien Marktwirtschaft und des digitalen Dataismus. … Inzwischen wird die freie Waren- und Datenwelt von den meisten Menschen akzeptiert, wenn nicht begrüßt. … Auch diejenigen, die am Ende der Lohnpyramide stehen, brauchen den Packerjob bei Amazon, um zu überleben. Und andere Jobs hatten auch die Postmarxisten nicht zu bieten. … Allen Segnungen der Freiheit zum Trotz: Es gibt in vielen Menschen jene Sehnsucht nach Gerechtigkeit, familiärer Verankerung und Identität, die im Rausch der Datengeschwindigkeit eher wächst. … Empathie entwickeln, Menschen einbinden, die sich ängstigen um ihren Job in einer Welt, in der die Arbeit verschwindet – das aber müssen Liberale erst noch lernen; vielleicht ja von den Werten der alten Linken.“
Ich bin ja bloß ein mittelalter Linker, aber bevor ich unseren Liberalen beibrächte, wie sie Empathie entwickeln und Menschen einbinden, etwas, das zu lernen der Liberalismus ein Vierteljahrtausend Zeit hatte, möchte ich, zumal im Marx-Jahr, auf diesem anderen Dualismus bestehen, der, weil er so schön gesiegt hat, den Dualismus von neoliberal und völkisch zu einem von Ursache und Wirkung macht. Was Schoepp und Konsorten für die Welt von morgen halten, ist die Welt von vorgestern, und daß die Orbans, Erdogans und Weidels das mit dem Menscheneinbinden im Zweifel besser hinkriegen als die, für die Prantl den Seelsorger gibt, ist so sicher wie das Amen in jener Kirche, deren Reich, kommt’s dumm, dann wieder ganz von dieser Welt sein wird. „Das Scheitern der klassischen Linken aber war die Voraussetzung dafür, daß sich Rechtspopulisten nun als einzige Alternative zum Marktliberalismus aufspielen können“ (Schoepp), was als Analyse weniger verächtlich wäre, wenn sie dieses Scheitern nicht alle gewollt und beklatscht hätten; und es gar nicht erwarten können, bis etwa der venezolanische Busfahrer dem nächstbesten Caudillo Platz macht.
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