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Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Los geht’s

Die neue österreichische Regierung, lese ich, „dreht die Zeit zurück“ („Tagesspiegel“) und verläßt den Weg zum Bevormundestaat: „In der Präambel ihres Programms steht der Satz: ,Wir müssen der staatlichen Bevormundung ein Ende setzen.’ Und vier Sätze später gleich noch einmal: ,Statt Bevormundung von oben herab geht es darum, den Dienst an den Österreicherinnen und Österreichern zu leben.’ Es geht um das Ende der tatsächlichen, empfundenen oder bloß behaupteten Gängelung der Bürger eines Landes durch dessen Obrigkeit, durch den Staat mit seinen Gesetzen, durch Leute in den Großstädten und deren Moralismus, durch ,Gutmenschen’ und die Sprachschöpfungen von Feministen und Gender-Experten. Vor allem die Wähler der FPÖ beklagen das. Und der Regierung geht es darum zu zeigen, daß tatsächlich eine neue Zeit angebrochen ist in Österreich. Kurz vor Weihnachten sprach der neue Verkehrsminister in Interviews davon, über eine Lockerung des Autobahn-Tempolimits von 130 Kilometern pro Stunde nachzudenken.“ Das absolute Rauchverbot in der Gastronomie ist bereits kassiert.

Aber nicht nur die WählerInnen (kleiner Scherz!) der FPÖ beklagen das; auch der österreichische Kulturprofessor und Bestsellerautor Robert Pfaller schimpft auf die allwaltende Askese und beklagt den Verlust von „Lust- und Genußpraktiken, die, wie das Tragen von Pelzen, das Autofahren, das Austauschen von Komplimenten, die körperliche Liebe, das Rauchen, das Verschwenden von Zeit oder das Essen von Fleisch, heute für viele Zeitgenossen, sei es aus hygienischen, moralischen, politischen oder ökologischen Gründen etc., nur noch abstoßend sind“; und weil, wichtiger, „pedantische Oberaufseher“, „Oberlehrer“ und „Mimosen“, mithin die Moralisten und Sprachreglerinnen aus den „liberalen, wohlhabenden Innenbezirken“ der Großstädte das so verlangten.

„Die Transparenzgesellschaft ist eine lustfeindliche Gesellschaft.“ Byung-Chul Han, 2012

Und zwar, und das ist die Pointe von Pfallers frischem Buch „Erwachsenensprache“, als neoliberale Agenten. Gleichheit sei nämlich ganz und nicht dasselbe wie Diversität, sondern ihr reines Gegenteil: Die unterm neoliberalen Diktat schwindende materielle Gleichheit werde durch eine bloß symbolische ersetzt, in welcher zwar immer mehr Menschen immer weniger haben, dafür aber über einen Reichtum an Empfindlichkeiten und Identitäten verfügen, deren umfängliche Anerkennung lediglich die perfide Kehrseite des Umstands ist, daß die neoliberale Gegenwart vieles anerkennt, den Menschen als Humanum aber ganz gewiß nicht. Korrektheit sei deshalb neoliberale „Propaganda“ und überdies ein Distinktions- und Konkurrenzmittel der linksliberalen Mittelschicht, um „falsche“ Lebensweisen und „das rebellische, vulgäre und ungehörige Sprechen sämtlicher anderer zu diskreditieren“. Tatsächliche, konkrete Gleichheit und „politische Selbstbestimmung“, so Pfallers Schluß, könnten nur da gedeihen, wo es mit der Korrektheit ein Ende habe und wieder das Argument zähle, nicht die Person.

Das ist bedenkenswert, einerseits; Verwandtes habe ich selbst schon geschrieben (und später relativiert). Andererseits sind das die Sorgen der FPÖ-Kundschaft und ließe sich umgekehrt argumentieren, daß Rasen und Fressen („Die Spezialität des Hauses kommt in einer Art Blechtrog: ein Meter Österreich mit Schweineschnitzel, Rindsgulasch, Blunzengröstl, Eiernockerln und Würstchen“, „Tagesspiegel“) ja auch bloß konsumistische Sedativa sind und „Genuß“ unterm Kapitalismus nicht das ist, was vielleicht Adorno darunter verstand. (Ein akademisch-moralischer Großstadteinwand wiederum, gewiß; aber warum sind die Menschen jetzt plötzlich freie Genußwesen, wo sie doch sonst Charaktermasken sind?) Die Leute, schreibt Pfaller, würden systematisch zu Jammerlappen gemacht, die wegen jedem Pups zur Diskriminierungsstelle liefen; aber müssen nicht allenthalben die Kinder schon „stark“ werden (wegen Drogen, Markt usw.), und ist der resiliente Sport- und Outdoortypus nicht mindestens genauso zeittypisch wie Pfallers Gendermimose? Und ist das Mittelschichtspublikum, das sich nicht von akademischen Verbotsbeauftragten gängeln lassen will, beim Jammern (nämlich übers „Verbot“, Auto zu fahren und Fleisch zu essen, was ja nun ein Witz ist) nicht vorne mit dabei? Und zutiefst dankbar, daß wer die Schuld an Ausbeutung und Armut ausdrücklich nicht in den klassenspezifischen Konsum- und Ellbogengewohnheiten (als nämlich durchaus moralfernen) erkennt, sondern bei den Eierköpf*innen und dem Ami ablädt, der den PC-Quark aus den üblichen sinistren Motiven angerührt hat?

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ Wittgenstein, 1918

Sündengeiß Diversität also. Was aber ist mit der Bewußtseinsindustrie, der täglichen Konsum- und Systempropaganda und jenem „Klassenkampf der Mitte“, geführt von der „großen Koalition der Wohlstandsbewahrer“ (Stephan Lessenich), denen Gleichheit (oder gar Sozialismus) zirka tausendmal weniger wichtig ist als die Möglichkeit, die optimale Schule fürs Kind zu finden und ohne Gewissensnot den Osterferienflug buchen zu können? Hat man sich in der guten alten präneoliberalen und vorkorrekten Zeit wirklich pauschal „erwachsener“ verständigt, wenn man Schauspielerinnen wie Helen Mirren in Talkshows männlicherseits auf ihr Dekolleté ansprach (SZ, 5.1.) oder Spaghettifresser wie Tonio Schiavo in Herne vom Dach schmiß? Gibt's nicht auch queere Facharbeiter auf dem Land, und kriegt etwa die Antifa Systemablehnung und *-Kultur nicht auch zusammen? Und wenn nur das Argument zählt, warum hält es Pfaller dann mit dem 9/11-Verschwörungstheoretiker Daniele Ganser?

Das sind so Fragen. Aber sie zu stellen ist ja Teil des produktiven, systemüberwindenden Dissenses, der wieder möglich werden soll. Ich bin dabei.




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Briefe an die Leser

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

 Aaaaah, Bestsellerautor Maxim Leo!

In Ihrem neuen Roman »Wir werden jung sein« beschäftigen Sie sich mit der These, dass es in nicht allzu ferner Zukunft möglich sein wird, das maximale Lebensalter von Menschen mittels neuer Medikamente auf 120, 150 oder sogar 200 Jahre zu verlängern. Grundlage sind die Erkenntnisse aus der sogenannten Longevity-Forschung, mit denen modernen Frankensteins bereits das Kunststück gelang, das Leben von Versuchsmäusen beträchtlich zu verlängern.

So verlockend der Gedanke auch ist, das Finale der Fußballweltmeisterschaft 2086 bei bester Gesundheit von der heimischen Couch aus zu verfolgen und sich danach im Schaukelstuhl gemütlich das 196. Studioalbum der Rolling Stones anzuhören – wer möchte denn bitte in einer Welt leben, in der das Gerangel zwischen Joe Biden und Donald Trump noch ein ganzes Jahrhundert so weitergeht, der Papst bis zum Jüngsten Gericht durchregiert und Wladimir Putin bei seiner Kolonisierung auf andere Planeten zurückgreifen muss? Eines will man angesichts Ihrer Prognose, dass es bis zum medizinischen Durchbruch »im besten Fall noch 10 und im schlimmsten 50 Jahre dauert«, ganz bestimmt nicht: Ihren dystopischen Horrorschinken lesen!

Brennt dann doch lieber an beiden Enden und erlischt mit Stil: Titanic

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

 Ach, Taube,

Ach, Taube,

die Du in Indien wegen chinesischer Schriftzeichen auf Deinen Flügeln acht Monate in Polizeigewahrsam verbracht hast: Deine Geschichte ging um die Welt und führte uns vor Augen, wozu die indische Fashion-Polizei fähig ist. Aufgrund Deiner doch sehr klischeehaften Modetattoos (chinesische Schriftzeichen, Flügel) fragen wir uns aber, ob Du das nicht alles inszeniert hast, damit Du nun ganz authentisch eine Träne unter dem Auge oder ein Spinnennetz auf Deinem Ellenbogen (?) tragen kannst!

Hat Dein Motiv durchschaut: Titanic

 Wussten wir’s doch, »Heute-Journal«!

Deinen Bericht über die Ausstellung »Kunst und Fälschung« im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg beendetest Du so: »Es gibt keine perfekte Fälschung. Die hängen weiterhin als Originale in den Museen.«

Haben Originale auch schon immer für die besseren Fälschungen gehalten:

Deine Kunsthistoriker/innen von der Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt
08.04.2024 Oldenburg, Theater Laboratorium Bernd Eilert mit Klaus Modick