Aus Eugen Egners Püppchenstudio
Das Drastikum
Dann bekam ich den Auftrag, zur Apotheke zu laufen und ein vom Arzt verordnetes Drastikum zu holen. Weil Sonntag war, stand die Apotheke weit draußen vor der Stadt, nein, das stimmt nicht, sie stand schon mitten in der Stadt, aber ziemlich weit von unserem Wohnhaus entfernt. Das hätte sie, wie ich inzwischen denke, an jedem Werktag genau so getan. Die Tür stand sogar weit offen, und ich konnte wie ein Kunde eintreten. Zuerst rief ich „Hallo!“, dann „Nein!“, denn in der Person hinter der Verkaufstheke erkannte ich mit Schrecken die Apothekerin. Vor zehn Jahren hatte ich sie glühend bewundert, jetzt konnte ich sie nur noch anhand des Namensschildes identifizieren, das an ihr befestigt war. Sie sah aus wie ihre Großmutter, und am liebsten hätte ich, der ich aussah wie meine beiden Großväter zusammen, ihr ein drastisches Verjüngungsmittel ausgehändigt, hatte aber nur die Verordnung über das Drastikum. Sie las den Wisch und nickte wissend. Um etwas zu sagen, fragte ich: „Ist der Notarzt Ihr Bruder?“ – „Ich werde das überprüfen“, antwortete die Apothekerin. „Hier ist einstweilen das Mittel. Nun lauf schön heim!“ Das tat ich. Kurz bevor ich die Bahn erreichte, die mich zum Stadtrand bringen sollte, trat mir ein Mädchen in den Weg und verlangte 40 Cent, um sich Drogen kaufen zu können. Ich hatte aber keine 40 Cent, und daher verlangte sie: „Dann mußt du mir geben, was du da bei dir hast.“ Weil sie mich andernfalls auf der Stelle getötet hätte, gab ich ihr das Drastikum. Sie las nur die ersten beiden Buchstaben und triumphierte: „Das ist ja eine Droge!“ Gierig grunzend schluckte sie das ganze Zeug. Dann zerriß es sie.
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