Humorkritik | Mai 2024

Mai 2024

»Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie. Die Götter Griechenlands, die schon einmal tragisch zu Tode verwundet waren im gefesselten Prometheus des Äschylus, mußten noch einmal komisch sterben in den Gesprächen Lucians. Warum dieser Gang der Geschichte? Damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide.«
Karl Marx

Mehr Witzel als Witz

Gar zu gerne würde ich ein Buch über »Die Nacktheit in der deutschen Politik« lesen. Oder den »Versuch einer Neubewertung des Kannibalismus«. Leider muss ich darauf ebenso verzichten wie auf die »Moralpsychologie des Tanten-Ekels« oder »Vom Lendenschurz zum Scheuerlappen – Geschlechterspezifische Nutzung von Lederwaren«, denn Gudrun Wittstock (1954–2017) hat weder diese vier Titel geschrieben noch auch nur ein Sterbenswörtchen über die anderen 1376, die sie in ihrer »Abhandlung« von 1993 anzeigte.

Was es dagegen gibt, ist eine Literaturgeschichte (erschienen bei Matthes & Seitz Berlin), deren Herausgeber »vergessene, verkannte, verschollene« Autoren des verflossenen Jahrhunderts vorstellt – u. a. eben Frau Wittstock –, deren Bücher er in Antiquariaten, auf Flohmärkten, bei Haushaltsauflösungen aufgestöbert hat. Des Finders Glück ist des Lesers Freud’; allerdings keine ungeteilte, weil die Vorliebe des Sammlers für avantgardistische Literatur eine gewisse Hürde darstellt: Zwar mag es lustig anmuten, wenn z.B. Franz Rosentreter (*1951) in seinem einzigen jemals gesendeten Hörspiel »Jedermann weiß, dies ist Nirgendwo« die drei Stimmen ein fast wörtlich aus dem Englischen übersetztes Deutsch reden und Sätze sagen lässt wie »Jetzt bin ich übel und müde und unten« und »Hey, ich denke, ich mag zurückgehen und es leichtnehmen, denn es gibt da einen Typ, den ich zu kennen bekommen möchte«; sobald man aber die Masche genug zu kennen bekommen hat, werden wohl die meisten Hörer übel und müde und unten und aus.

Außerhalb solcher Exerzier- und Experimentierfelder gedeiht Komik besser, und wenige Sätze genügen. Um eine der anonymen Miniaturen in der 2014 als angeblicher Piratendruck erschienenen Anthologie »Works and Days of the Fénéon Collective« zu zitieren: »›Aber, muss es da nicht noch etwas anderes geben als nur das!?‹ – So die letzten Worte von M. Hollande, 98, aus Metz, nach 78 Jahren experimenteller Poesie.«

Ja, es müsste mehr geben als nur das, aber bedauerlicherweise hat der 1955 geborene Herausgeber (und da und dort auch Verfasser) keinen großen Wert auf Belachbares, auf die Ausgrabung und das Zitieren komischer Werke gelegt. Der Grund wird sein, dass er selbst kein genuin witziger Autor ist. Sehr wohl aber kann er mit den Vergessenen, Verkannten und Verschollenen mitfühlen. Er gehörte zu ihnen, nachdem seine zwei 1978 und 1980 publizierten Gedichtbände in Vergessenheit geraten waren, und als er gut zwanzig Jahre später zwei Romane veröffentlichte, verkannte die Öffentlichkeit weiterhin das Großtalent – das dann 2015 mit dem Roman »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969« doch noch zu Ruhm kam: Frank Witzel, jetzt auch Autor von »Meine Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts«.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ach, Scheuer-Andi,

wie der Spiegel meldet, wird niemand für Sie in den Bundestag nachrücken. Da scheinen die Fußstapfen wohl einfach zu groß zu sein.

Die Besten gehen immer zu früh …

Weiß Titanic

 Verehrte Joyce Carol Oates,

da Sie seit den Sechzigern beinah im Jahrestakt neue Bücher veröffentlichen, die auch noch in zahlreiche Sprachen übersetzt werden, kommen Sie vermutlich nicht dazu, jeden Verlagstext persönlich abzusegnen. Vielleicht können Sie uns dennoch mit ein paar Deutungsangeboten aushelfen, denn uns will ums Verrecken nicht einfallen, was der deutsche Ecco-Verlag im Sinn hatte, als er Ihren neuen Roman wie folgt bewarb: »›Babysitter‹ ist ein niederschmetternd beeindruckendes Buch, ein schonungsloses Porträt des Amerikas der oberen Mittelschicht sowie ein entlarvender Blick auf die etablierten Rollen der Frau. Oates gelingt es, all dies zu einem unglaublichen Pageturner zu formen. In den späten 1970ern treffen in Detroit und seinen Vorstädten verschiedene Leben aufeinander«, darunter »eine rätselhafte Figur an der Peripherie der Elite Detroits, der bisher jeglicher Vergeltung entkam«.

Bitte helfen Sie uns, Joyce Carol Oates – wer genau ist ›der Figur‹, dem es die elitären Peripherien angetan haben? Tragen die Leben beim Aufeinandertreffen Helme? Wie müssen wir uns ein Porträt vorstellen, das zugleich ein Blick ist? Wird das wehtun, wenn uns Ihr Buch erst niederschmettert, um dann noch Eindrücke auf uns zu hinterlassen? Und wie ist es Ihnen gelungen, aus dem unappetitlich plattgedrückten Matsch zu guter Letzt noch einen »Pageturner« zu formen?

Wartet lieber aufs nächste Buch: Titanic

 Hallihallo, Michael Maar!

In unserem Märzheft 2010 mahnte ein »Brief an die Leser«: »Spannend ist ein Krimi oder ein Sportwettkampf.« Alles andere sei eben nicht »spannend«, der schlimmen dummen Sprachpraxis zum Trotz.

Der Literatur- ist ja immer auch Sprachkritiker, und 14 Jahre später haben Sie im SZ-Feuilleton eine »Warnung vor dem S-Wort« veröffentlicht und per Gastbeitrag »zur inflationären Verwendung eines Wörtchens« Stellung bezogen: »Nein, liebe Radiosprecher und Moderatorinnen. Es ist nicht S, wenn eine Regisseurin ein Bachmann-Stück mit drei Schauspielerinnen besetzt. Eine Diskussionsrunde über postmoderne Lyrik ist nicht S. Ein neu eingespieltes Oboenkonzert aus dem Barock ist nicht S.«

Super-S wird dagegen Ihr nächster fresher Beitrag im Jahr 2038: Das M-Wort ist ja man auch ganz schön dumm!

Massiv grüßt Sie Titanic

 Hä, »Spiegel«?

»Aber gesund machen wird diese Legalisierung niemanden!« schreibst Du in einem Kommentar zum neuen Cannabisgesetz. »Ach, echt nicht?« fragen wir uns da verblüfft. Wir waren bisher fest vom Gegenteil überzeugt. Immerhin haben Kiffer/innen oft sehr gute feinmotorische Fähigkeiten, einen gesunden Appetit und ärgern sich selten. Hinzu kommen die unzähligen Reggaesongs, in denen das Kiffgras als »Healing of the Nation« bezeichnet wird. All dies willst Du nun tatsächlich infrage stellen? Da lieber noch mal ganz in Ruhe drüber nachdenken!

Empfehlen Deine Blättchenfreund/innen von Titanic

 Chillax, Friedrich Merz!

Sie sind Gegner der Cannabislegalisierung, insbesondere sorgen Sie sich um den Kinder- und Jugendschutz. Dennoch gaben Sie zu Protokoll, Sie hätten »einmal während der Schulzeit mal einen Zug dran getan«.

Das sollte Ihnen zu denken geben. Nicht wegen etwaiger Spätfolgen, sondern: Wenn ein Erzkonservativer aus dem Sauerland, der fürs Kiffen die Formulierung »einen Zug dran tun« wählt, schon in der Schulzeit – und trotz sehr wahrscheinlichem Mangel an coolen Freund/innen – an Gras kam, muss dann nicht so ziemlich jedes andere System besseren Jugendschutz garantieren?

Sinniert

Ihre Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Back to Metal

Wer billig kauft, kauft dreimal: Gerade ist mir beim zweiten Sparschäler innerhalb von 14 Tagen die bewegliche Klinge aus ihrer Plastikaufhängung gebrochen. Wer Sparschäler aus Kunststoff kauft, spart also am falschen Ende, nämlich am oberen!

Mark-Stefan Tietze

 Spielregeln

Am Ende einer Mensch-ärgere-dich-nicht-Partie fragt der demente Herr, ob er erst eine Sechs würfeln muss, wenn er zum Klo will.

Miriam Wurster

 Gebt ihnen einen Lebenszyklus!

Künstliche Pflanzen täuschen mir immer gekonnter Natürlichkeit vor. Was ihnen da aber noch fehlt, ist die Fähigkeit zu verwelken. Mein Vorschlag: Plastikpflanzen in verschiedenen Welkstadien, damit man sich das Naserümpfen der Gäste erspart und weiterhin nur dafür belächelt wird, dass man alle seine Zöglinge sterben lässt.

Michael Höfler

 Finanz-Blues

Wenn ich bei meiner langjährigen Hausbank anrufe, meldet sich immer und ausnahmslos eine Raiffeisenstimme.

Theobald Fuchs

 Altersspezifisch

Ich gehöre noch zu einer Generation, deren Sätze zu häufig mit »Ich gehöre noch zu einer Generation« anfangen.

Andreas Maier

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
23.05.2024 Bielefeld, Theaterlabor Max Goldt
24.05.2024 Dresden, Buchladen Tante Leuk Thomas Gsella
30.05.2024 Frankfurt, Museum für Komische Kunst »POLO«
30.05.2024 Frankfurt, Museum für Komische Kunst Hans Traxler: »Die Dünen der Dänen«