Humorkritik | Oktober 2023

Oktober 2023

»His wicked sense of humour / suggests exciting sex.«
Björk, »Venus as a Boy«

Tor ohne Tore

Kritiker gelten ja als verhinderte Künstler, und am Ende stimmt’s. Als Schriftsteller hätte Ihr Lieblingskritiker die Idee, einen Hipster von der Stadt in die tiefste Provinz ziehen zu lassen, aber nicht einmal skizziert, denn das klingt ja nun arg nach öffentlich-rechtlichem Unterhaltungsfilm. Der Dreh des spanischen, in seiner Heimat sehr erfolgreichen Romans »Der Hipster von der traurigen Gestalt« (Kunstmann), dieses »Hits der Saison« (SZ), verfasst vom Kulturjournalisten und Drehbuchautor Daniel Gascón, ist aber nicht nur, dass der junge Enrique freiwillig ins Nichts zieht, sondern dass sein postmodern achtsamer Aktivismus von Quijote’scher Naivität und Freundlichkeit ist: »Ich dachte, ich könnte auch einen Beitrag zur nötigen Dynamisierung der Jugend leisten, der im ländlichen Raum nicht das gleiche Unterhaltungsangebot zur Verfügung steht wie in den urbanen Zentren. Deswegen ging ich gegen fünf auf den Bolzplatz neben der Schule, der noch zur Tenne gehörte, und zeigte ihnen alternative Spiele, die sich von den kompetitiven und heteropatriarchalischen unterschieden, an die sie gewöhnt waren. Ich überzeugte sie davon, beim Fußball nicht länger die Tore zu zählen, und später räumten wir mit der Vorstellung auf, es gebe zwei gegnerische Mannschaften.« Wie die Satire hier immer wieder zur Pointe führt, lässt sich denken: »Javier hat gefragt, ob ich eventuell ein bisschen schwul bin«, aber erstens kann man einen guten Witz auch zweimal machen, und zweitens hat Gascón, Autor der linksliberalen Hauptstadtzeitung El País, das Buch zur Zeit geschrieben, ohne auf kabarettistische Weise höhnisch zu werden.

Es ist ja tatsächlich ein Problem für Satire (und die, die sie machen), dass sie den Progressismus nicht aufs Korn nehmen kann, ohne sich Dieter Nuhr zu nähern. Weil Gascóns Erzähler aber so arglos und kein Feindbild ist, wird die Ironie der Milieuschilderung zu jener Selbstironie, von der man finden mag, dass sie dem Milieu abgeht, und wenn die Freunde aus der Stadt zu Besuch im »leeren Spanien« sind, wie das Schlagwort für die tote Provinz lautet, ist das zwar Karikatur, aber eine, die eher dem Effekt als dem Standpunkt verpflichtet ist: »Nach dem Essen gingen wir in der Bar einen Kaffee trinken. Edu beschwerte sich darüber, dass es keine Sojamilch gab. … Lina wies darauf hin, dass der Schuppen, in dem ich das Gescherr verwahrte, keinen barrierefreien Zugang für Personen mit abweichendem Mobilitätspotential biete. Als ich Gescherr sagte, lachten sie über meinen, wie sie sagten, ›unverständlichen Jargon‹.« Enrique, der das Schafemelken für »eine Form der sexuellen Belästigung« hält (den Witz hat Josef Hader vor 25 Jahren schon gemacht) und trotzdem, versteht sich, das richtige Leben der einfachen Leute kennenlernt, wird sogar deren Bürgermeister, und das ist ein bisschen langweilig, weil im Konflikt so sauber angelegt. Die Wahl ist auch nicht am Schluss, sondern ziemlich am Anfang, und das dekonstruiert zwar meine spätkapitalistisch-heteropatriarchale Lesegewohnheit, aber sehr viel mehr will der Erzählung – im Sinne ihres postmodernen Helden eine multiperspektivisch-polyformale Montage – dann nicht einfallen. Ich habe sie bald weggelegt, denn ein Fußballspiel ist halt auch nur spannend, wenn man die Tore zählt.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Huhu, »HNA« (»Hessische/Niedersächsische Allgemeine«)!

Mit großer Verblüffung lesen wir bei Dir in einem Testbericht: »Frischkäse ist kaum aus einem Haushalt in Deutschland wegzudenken.«

Och, Menno! Warum denn nicht? Und wenn wir uns nun ganz doll anstrengen? Wollen wir es denn, HNA, einmal gemeinsam versuchen? Also: Augen schließen, konzentrieren und – Achtung: hui! – weg damit! Uuuund: Futschikato! Einfach aus dem eigenen Haushalt weggedacht. Und war doch überhaupt nicht schlimm, oder?

Es dankt für die erfolgreiche Zusammenarbeit und hofft, einen kleinen Denkanstoß gegeben zu haben, wenn nicht gar einen Wegdenkanstoß: Titanic

 Ganz, ganz sicher, unbekannter Ingenieur aus Mittelsachsen,

dass Du Deine Verteidigungsstrategie nicht überdenken willst? Unter uns, es klingt schon heftig, was Dir so alles vorgeworfen wird: Nach einem Crash sollst Du einem anderen Verkehrsteilnehmer gegenüber handgreiflich geworden sein, nur um dann Reißaus zu nehmen, als der Dir mit der Polizei kommen wollte.

Die beim wackeren Rückzug geäußerten Schmähungen, für die Du nun blechen sollst, wolltest Du vor dem Amtsgericht Freiberg dann aber doch nicht auf Dir sitzen lassen. Weder »Judensau« noch »Heil Hitler« willst Du gerufen haben, sondern lediglich »Du Sau« und »Fei bitter«. Magst Du das nicht noch mal mit Deinem Rechtsbeistand durchsprechen? Hast Du im fraglichen Moment nicht vielleicht doch eher Deinen Unmut über das wenig höfische Verhalten des anderen Verkehrsteilnehmers (»Kein Ritter!«) geäußert, hattest Deinen im selben Moment beschlossenen Abschied von den sozialen Medien (»Bye, Twitter!«) im Sinn, oder hast gar Deiner verspäteten Freude über die olympische Bronzemedaille des deutschen Ruder-Achters von 1936 (»Geil, Dritter!«) Ausdruck verliehen?

Nein? Du bleibst dabei? Und würdest dafür sogar ins Gefängnis gehen (»Fein, Gitter!«)?

Davor hat fast schon wieder Respekt: Titanic

 Sie, Romancier Robert Habeck,

Sie, Romancier Robert Habeck,

nehmen Ihren Nebenjob als Wirtschaftsminister wohl sehr ernst! So ernst, dass Sie durch eine Neuauflage Ihres zusammen mit Ihrer Ehefrau verfassten Romans »Der Tag, an dem ich meinen toten Mann traf« versuchen, fast im Alleingang dem darniederliegenden Literaturmarkt auf die Sprünge zu helfen. Könnten Sie sich als Nächstes das Zeitschriftensterben vorknöpfen?

Fragt Titanic

 Keine Übertreibung, Mathias Richling,

sei die Behauptung, dass die Ampel »einen desaströsen Eindruck bei jedermann« hinterlasse, denn in den vielen Jahren Ihrer Karriere, so schilderten Sie’s den Stuttgarter Nachrichten, hätten Sie es noch nie erlebt, »dass ohne jegliche pointierte Bemerkung allein die bloße Nennung des Namens Ricarda Lang ein brüllendes Gelächter auslöst«.

Aber was bedeutet das? »Das bedeutet ja aber, zu Mitgliedern der aktuellen Bundesregierung muss man sich nichts Satirisches und keinen Kommentar mehr einfallen lassen.« Nun beruhigt uns einerseits, dass Ihr Publikum, das sich an Ihren Parodien von Helmut Kohl und Edmund Stoiber erfreut, wohl immerhin weiß, wer Ricarda Lang ist. Als beunruhigend empfinden wir hingegen, dass offenbar Sie nicht wissen, dass Lang gar kein Mitglied der aktuellen Bundesregierung ist.

Muss sich dazu nichts Satirisches und keinen Kommentar mehr einfallen lassen: Titanic

 Damit hast Du nicht gerechnet, »Zeit online«!

Als Du fragtest: »Wie gut sind Sie in Mathe?«, wolltest Du uns da wieder einmal für dumm verkaufen? Logisch wissen wir, dass bei dieser einzigen Aufgabe, die Du uns gestellt hast (Z+), erstens der zweite Summand und zweitens der Mehrwert fehlt.

Bitte nachbessern: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 3:6, 6:7, 0:6

Der Volontär in der Konferenz der Sportredaktion auf die Bitte, seine Story in drei Sätzen zu erzählen.

Ronnie Zumbühl

 Hellseherisch

Morgen ist einfach nicht mein Tag.

Theo Matthies

 Süße Erkenntnis

Für jemanden, der Pfirsich liebt, aber Maracuja hasst, hält die Welt viele Enttäuschungen bereit.

Karl Franz

 Nachwuchs

Den werdenden Eltern, die es genau mögen, empfehle ich meinen Babynamensvorschlag: Dean Norman.

Alice Brücher-Herpel

 Dilemma

Zum Einschlafen Lämmer zählen und sich täglich über einen neuen Rekord freuen.

Michael Höfler

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
01.12.2023 Hamburg, Centralkomitee Hauck & Bauer
01.12.2023 Karben, Kulturscheune im Selzerbrunnenhof Pit Knorr & Die Eiligen Drei Könige
02.12.2023 Itzehoe, Lauschbar Hauck & Bauer
03.12.2023 Kassel, Studiobühne im Staatstheater Kassel Ella Carina Werner