Humorkritik | Dezember 2023

Dezember 2023

»Es gibt genug Scherereien im Leben; warum es nicht einmal auf die heitere Weise versuchen?«
Auguste Renoir

Kevin und Kehlmann

Die Ich-Erzählung wird vielen als die einfachste Form des Erzählens erscheinen; dabei ist sie die abgründigste, weil sie den Autor oder die Autorin gerade nicht in die Erzählung holt. Ein verunglückter belletristischer Satz geht ja strenggenommen nicht aufs Konto des Autors, sondern desjenigen, der erzählt; aber sofern dieser Erzähler namenlos bleibt und nicht selbst in Erscheinung tritt, wird es schwerfallen, eine Phrase oder schiefe Metapher nicht dem Dichter in Rechnung zu stellen. In Christoph Salchers Satire »Ich und Kehlmann« spricht dagegen Kevin Fellner, Gymnasialprofessor im österreichischen Zell am See und kommender Literatursuperstar, jedenfalls nach eigener Einschätzung. Er ist mit einem fast fertigen Romanmanuskript nach Frankfurt zur Buchmesse gereist, um es beim Rowohlt-Verlag einzureichen, dem Hausverlag Daniel Kehlmanns, als dessen Nachfolger, genauer Re-Inkarnation Fellner sich versteht: Ihm schwebt nicht nur eine Wiedergeburt als Autor, sondern als Kehlmann vor, dessen »Schreibverfall« seit dem Roman »F« evident sei.

Das ist erst mal ganz lustig, weil Kinder und Narren ja die Wahrheit sagen. Aber der möglichen Freude über einen verrutschten Neo-Kehlmann steht eben die Tatsache im Weg, dass Fellner (oder Salcher?) nicht Kehlmann ist, sondern nur eine abgestandene, fehlerhafte, vom Lokalhelden Thomas Bernhard stimulierte Prosa im Angebot hat, die ein Lektor im Roman ganz richtig kennzeichnet: »Zudem scheinen Wiederholung und das Mittel der maßlosen Übertreibung Ihre zwei einzigen sprachlichen Möglichkeiten zu sein. Diese permanenten Wiederholungen, Herr Fellner, verursachen mir langsam Kopfschmerzen. Ihr Repertoire bezüglich des Ausdrucks und Stils erscheint mir in der Tat mehr als monoton und viel zu eingeschränkt für unsere hohen, ja, wie ich sagen muss, höchsten literarischen Ansprüche.« Von meinen zu schweigen, die sich von solch billigen Meta-Tricks auch keinesfalls übertölpeln lassen. Dass das die Satire (Anspruch! Wirklichkeit!) sein soll, ist mir klar; aber dass es so furchtbar klar ist, ist das Furchtbare.

Als Parodie aufs Literaturwesen einer- und auf Kehlmann’sche Lieblingsthemen andererseits (Illusion, Zeit) ließe sich der Roman vielleicht ertragen, wenn er sich, beim Titel angefangen, der mit »Ich und Kaminski« Kehlmanns »typisches Frühwerk, voll von Fehlern« zitiert, nicht fortwährend selbst erklärte: Fellner, dieser »Schöpfer aller Welten«, hat ein Hotel namens »Innside« bezogen, und natürlich hat der Ich-Erzähler (»Ich bin keine Randnotiz!«), der also gleich dreimal in einem Roman lebt, zwischendurch ein »Gefühl der Unwirklichkeit«: »Die Quantenphysiker haben die Nichtexistenz der Zeit ja längst bewiesen, dachte ich. Es ist also möglich: Reales fiktiv und Fiktives real, ebenso Vergangenes gegenwärtig wie Gegenwärtiges vergangen.« Bei so viel Zaunpfahlwinken vergeht es dann aber mir, und ganz so frisch ist die Idee von Dekonstruktion dann doch nicht mehr. Als Extra-Kunstfehler darf gelten, dass Fellner nur eine Nervensäge, ja sogar ein Stalker und Querdenker ist, dem die Lektorate mit dem Rechtsanwalt drohen, und dann stellt sich aber die Frage, warum man dem mediokren Bericht einer unsympathischen Hauptfigur über 220 überraschungsfreie Seiten hinweg folgen soll. Der Roman, der, als man schon nicht mehr kann, noch seitenlang ein Fellner’sches Bernhard-Dramolett ausbreitet, weiß es so wenig wie der Wiener Milena-Verlag, der beim Zu-Tode-Erklären gern mitmacht und »eine Diskrepanz zwischen Fellners Wahrnehmung, seiner maßlosen Selbstüberschätzung und der Realität« feststellt. »In diesem Spannungsverhältnis besteht die Komik des Romans, der als eine satirische Darstellung über die Sehnsucht nach Erfolg, nach Anerkennung, nach Heimat und Zugehörigkeit gelesen werden kann.« Oder als Darstellung über die Abgründe des Ich-Erzählens; immerhin darin hat er einen Wert.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ah, »Galileo«!

Über die Arbeit von Türsteher/innen berichtest Du: »Viele Frauen arbeiten sogar als Türsteherinnen«. Wir setzen noch einen drauf und behaupten: In dieser Branche sogar alle!

Schmeißen diese Erkenntnis einfach mal raus:

Deine Pointen-Bouncer von Titanic

 Hallihallo, Michael Maar!

In unserem Märzheft 2010 mahnte ein »Brief an die Leser«: »Spannend ist ein Krimi oder ein Sportwettkampf.« Alles andere sei eben nicht »spannend«, der schlimmen dummen Sprachpraxis zum Trotz.

Der Literatur- ist ja immer auch Sprachkritiker, und 14 Jahre später haben Sie im SZ-Feuilleton eine »Warnung vor dem S-Wort« veröffentlicht und per Gastbeitrag »zur inflationären Verwendung eines Wörtchens« Stellung bezogen: »Nein, liebe Radiosprecher und Moderatorinnen. Es ist nicht S, wenn eine Regisseurin ein Bachmann-Stück mit drei Schauspielerinnen besetzt. Eine Diskussionsrunde über postmoderne Lyrik ist nicht S. Ein neu eingespieltes Oboenkonzert aus dem Barock ist nicht S.«

Super-S wird dagegen Ihr nächster fresher Beitrag im Jahr 2038: Das M-Wort ist ja man auch ganz schön dumm!

Massiv grüßt Sie Titanic

 Hä, »Spiegel«?

»Aber gesund machen wird diese Legalisierung niemanden!« schreibst Du in einem Kommentar zum neuen Cannabisgesetz. »Ach, echt nicht?« fragen wir uns da verblüfft. Wir waren bisher fest vom Gegenteil überzeugt. Immerhin haben Kiffer/innen oft sehr gute feinmotorische Fähigkeiten, einen gesunden Appetit und ärgern sich selten. Hinzu kommen die unzähligen Reggaesongs, in denen das Kiffgras als »Healing of the Nation« bezeichnet wird. All dies willst Du nun tatsächlich infrage stellen? Da lieber noch mal ganz in Ruhe drüber nachdenken!

Empfehlen Deine Blättchenfreund/innen von Titanic

 Hello, Grant Shapps (britischer Verteidigungsminister)!

Eine düstere Zukunft haben Sie in einem Gastbeitrag für den Telegraph zum 75jährigen Bestehen der Nato skizziert. Sie sehen eine neue Vorkriegszeit gekommen, da sich derzeit Mächte wie China, Russland, Iran und Nordkorea verbündeten, um die westlichen Demokratien zu schwächen. Dagegen hülfen lediglich eine Stärkung des Militärbündnisses, die weitere Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Rüstungsgüter und Munition. Eindringlich mahnten Sie: »Wir können uns nicht erlauben, Russisch Roulette mit unserer Zukunft zu spielen.«

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass es beim Russisch Roulette umso besser fürs eigene Wohlergehen ist, je weniger Munition im Spiel ist und Patronen sich in der Trommel befinden.

Den Revolver überhaupt vom eigenen Kopf fernhalten, empfehlen Ihre Croupiers von der Titanic

 Bild.de!

»Springer hatte im Januar bundesweit für Entsetzen gesorgt«, zwischentiteltest Du mit einem Mal überraschend selbstreferenziell. Und schriebst weiter: »Nach der Enthüllung des Potsdamer ›Remigrations‹-Treffens von AfD-Politikern und Rechtsextremisten postete Springer: ›Wir werden Ausländer zurückführen. Millionenfach. Das ist kein Geheimnis. Das ist ein Versprechen.‹« Und: »In Jüterbog wetterte Springer jetzt gegen ›dahergelaufene Messermänner‹ und ›Geld für Radwege in Peru‹«.

Dass es in dem Artikel gar nicht um Dich bzw. den hinter Dir stehenden Arschverlag geht, sondern lediglich der Brandenburger AfD-Vorsitzende René Springer zitiert wird, fällt da kaum auf!

Zumindest nicht Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Frage an die Brutschmarotzer-Ornithologie

Gibt es Kuckucke, die derart hinterhältig sind, dass sie ihre Eier anderen Kuckucken unterjubeln, damit die dann fremde Eier in fremde Nester legen?

Jürgen Miedl

 Die wahre Strafe

Verhaftet zu werden und in der Folge einen Telefonanruf tätigen zu müssen.

Fabio Kühnemuth

 Tödliche Pilzgerichte (1/1)

Gefühlte Champignons.

Lukas Haberland

 Gute Nachricht:

Letzte Woche in der Therapie einen riesigen Durchbruch gehabt. Schlechte Nachricht: Blinddarm.

Laura Brinkmann

 Finanz-Blues

Wenn ich bei meiner langjährigen Hausbank anrufe, meldet sich immer und ausnahmslos eine Raiffeisenstimme.

Theobald Fuchs

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
12.05.2024 Frankfurt, Museum für Komische Kunst »Ach was – Loriot zum Hundertsten«
12.05.2024 Kleinschönach/Bodensee, Kunsthalle Thomas Gsella
14.05.2024 Frankfurt, Goethe-Universität Martin Sonneborn
15.05.2024 München, Volkstheater Moritz Hürtgen mit S. El Ouassil und M. Robitzky