Humorkritik | Dezember 2023

Dezember 2023

»Es gibt genug Scherereien im Leben; warum es nicht einmal auf die heitere Weise versuchen?«
Auguste Renoir

Es wackelt, aber wie!

»Wer dichten kann, ist Dichtersmann«, definierte einst bündig H. C. Artmann, der wusste, wovon er sprach, weil es sich bei ihm ja geradezu um den Idealtypus eines Dichtersmannes handelte. Selige Zeiten, als in der Hochlyrik noch unbekümmert drauflosgereimt werden durfte! Das macht heute kaum noch einer (oder: eine), heute wird nur noch in der komischen Lyrik gereimt. Die entsprechenden Namen sind meinem Publikum natürlich bekannt.

Mir zugegebenermaßen nicht bekannt war bis vor kurzem der Schweizer Autor und Kabarettist Ralf Schlatter, was sich jedoch durch sein auf eigenwillige Art komisches, traditionelle Formate wie Versepos und Bänkelsang aufgreifendes, als »Roman in Reimen« untertiteltes Langgedicht »Des Reimes willen Henk« (Limbus) geändert hat. Titel und Untertitel sind so programmatisch wie das Tocotronic entlehnte Motto: »Hauptsache, es reimt sich«. Wir haben verstanden, Herr Schlatter, und machen uns entsprechend eingenordet an die Lektüre der 110 Seiten, auf denen die ziemlich turbulente Geschichte des »Taugenichts« Henk erzählt wird; ein Scheidungskind, welches sich aufgrund seiner üblen Erfahrungen mit (erwachsenen) Menschen eher zu Tieren hingezogen fühlt, insbesondere zu Vögeln. Das »moderne Märchen« führt Henk denn auch märchenhaft, von einem Raben geleitet, zu dem einzigen Menschen, der ihm etwas bedeutet, nämlich zu seiner Kindheitsliebe Trix, die inzwischen bei einem Zirkus arbeitet. Und so wie sich Henk auf »Fußgelenk« reimt und Trix minimalistisch auf »X«, so paar(reim)en sich die beiden auf ihre Weise auch aufs harmonischste: »ein, zwei Schritte Richtung Bett und nieder mit Getöse, / Kleider schwupps vom Leib, es fängt gleich an zu wackeln, aber wie! / Und ich verzieh mich eine Runde, seid mir bitte nicht zu böse, / solches ist für Lesende am schönsten in der Fantasie …«

Wie die fantasieschöne Geschichte zu einem Happy End führt, soll hier nicht ausbuchstabiert werden, liegt doch das Vergnügen nicht in der Handlung, sondern im Reimwerk. Dessen Schema ist simpel, und dass es gelegentlich im Metrum wackelt, ist eingepreist, wie man heute so sagt. Dafür spielt Schlatter beachtlich kunstfertig mit Formen und Phrasen: »ach, es bricht / die Zeile und mein Herz«. Wer so gebrochen und brechend vorgeht, darf irgendwann auch mal das besagte Herz auf Schmerz reimen; ironisch natürlich, handelt es sich doch um profanen »Muskelschmerz«. Spaß macht auch die Chuzpe, mit der Schlatter dem Reimlexikon oder der Dichtersmannkreativität seine Verse entnimmt: Da fügt sich »easy« zu »wie sie«, »totenstill« zu »Terence Hill« und »aufschrie« nicht so ganz astrein auf »Humphrey«. Zudem unterbricht der Autor den gereimten Erzählfluss immer wieder durch »Metaebenengeschreibsel« und literaturgeschichtliche und -betriebliche Verweise, etwa auf Wolf Haas, dessen Stil er beiläufig parodiert, was ich jetzt aber nicht auch noch zitieren werde, weil ich vielmehr zum Fazit komme: sehr erfreulich und erfrischend, das Ganze, ein Dichtersmann, der Schlatter, das Reimtalent, das hatter. Und eine Art Poetologie auch: »kommt dazu, dass Reimen glücklich macht, / denn Reime produzieren ein Gefühl der Harmonie, / was wiederum im Hirn ein Glückshormon entfacht, / das uns durchströmt, des Reimes willen bis ins Knie.«

  

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Halt, Stromanbieter Ostrom!

Du kannst uns noch so oft auf Insta mit den vielen »reasons to join ostrom« kommen, unsere Treue gehört dem einzig wahren Rom: Westrom!

In diesem Sinne vale und semper fi von Deiner Imperialtraditionalistin Titanic

 Unzufrieden, »Deutschlandfunk Kultur«,

sind einer Deiner Instagram-Kacheln zufolge knapp 20 Prozent der Jugendlichen. Vor allem Zukunftsängste machen ihnen zu schaffen. Als serviceorientierter Wohlfühlsender hast Du aber direkt eine praktische Lösung parat, wie den jungen Leuten geholfen werden könnte. Und zwar, indem man ihnen in der Schule sogenannte Selbstregulationskompetenzen beibringe. Gut geeignet seien demnach zum Beispiel Yoga und Atemübungen.

Die aufkommende Panik einfach wegmeditieren? Zugegeben: Bei der Hilflosigkeit, die beim Gedanken an Verarmung, Klimakatastrophe und Faschismus aufkommt, keine abwegige Idee. Trotzdem schiene uns »Selbstregulation« ein irgendwie spaßigeres Konzept zu sein, wenn Du, Deutschlandfunk, es den Jugendlichen anhand der Konten von Milliardär/innen oder anhand leerstehender Luxuslofts beibrächtest!

Deine Revoluzzerkids von Titanic

 Na, lange nichts von Ihnen gehört, Seehofer, Sie alte Schabracke!

Na, lange nichts von Ihnen gehört, Seehofer, Sie alte Schabracke!

Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung geben Sie Ihrer ehemaligen Chefin eine Mitschuld am Erfolg der AfD: »Ich finde, dass Angela Merkel sich keinen Zacken aus der Krone brechen würde, wenn sie mal erklärt: In der Migrationsfrage habe ich nicht jeden Tag richtig gelegen.« Nein, verkündeten Sie außerdem generös, Sie hätten »keine Triumphgefühle« ihr gegenüber, nur weil jetzt in der Flüchtlingspolitik »sehr viel von dem getan wird, was ich schon vor Jahren gefordert habe – und dafür von einigen sogar als Rechtsextremist beschimpft wurde«. Stattdessen spürten Sie nur »Genugtuung nach innen«. Natürlich: Stille, nach innen gerichtete Genugtuung posaunt man bekanntlich in die Süddeutsche … Aber wäre es nicht so oder so treffender gewesen, Sie hätten von einem »inneren Reichsparteitag« gesprochen?

Fragt Sie Ihre sprachpsychologische Praxis auf der Titanic

 Mal wieder typisch, Bundespolizei!

Du testest gerade den Einsatz von Tasern, hast Dir in einem vertraulichen Bericht aber eingestehen müssen, dass diese ihre Mannstoppwirkung oder gleich das ganze Ziel gerne mal verfehlen. Ein Grund für das Versagen der Taser ist wohl: eine »offene Softshell-Jacke«. Und das ist ja mal wieder typisch! Wer muss sich um Polizeigewalt in Taserform also keine Sorgen machen? Gutsituierte Krautwurst-Teutonen in ihren ewigen Softshell-Jacken! Komm, Bundespolizei, Rassismus kannst Du doch auch weniger auffällig, weiß aus anders gekleideter Quelle

Deine Titanic

 Und aber apropos, brigitte.de!

»Diese Angewohnheit schadet deinem Gehirn mehr, als du denkst« – eigentlich ist uns das als Vorlage zu billig. Aber schwer fällt uns der Verzicht schon!

Gewohnheitsmäßig nicht Deine Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Sprachchanges

Ist es Ihnen auch schon aufgefallen? Wir verwenden in der deutschen Sprache immer öfter Anglicisms.

Jürgen Miedl

 Ungenießbar

Zu Beginn der kalten Jahreszeit wird einem ja wieder überall Tee angeboten. Ich kann das Zeug einfach nicht trinken. Egal wie viel ich von dem brühheißen Wasser nachgieße, ich schaffe es einfach nicht, den Beutel im Ganzen herunterzuschlucken.

Leo Riegel

 Schattenseite des Longevity-Trends

Ob ich mit fast 60 noch mal Vater werden sollte? Puh, wenn das Kind 100 ist, bin ich schon 160!

Martin Weidauer

 Krass, krasser, Kasse

Wenn ich im Alltag mal wieder einen Kick suche, gehe ich kurz nach Feierabend oder samstags bei einem Discounter einkaufen. Finde ich dort eine richtig lange Kassenschlange vor, stelle ich mich nicht etwa an, sondern lege meine Einkäufe auf die nicht besetzte Kasse daneben. Hier beginnt der Nervenkitzel: Werde ich wie der letzte Idiot erfolglos auf die Öffnung der neuen Kasse warten oder wie ein allwissender Gott über den gewöhnlichen Einkäufern schweben? Mehr Spannung geht nicht. Anfängern rate ich allerdings, sich erst nach dem Schrillen, mit dem im Supermarkt Kollegen gerufen werden, an der leeren Kasse anzustellen. So kann man sich mit ein paar sicheren Erfolgen langsam an das freie Anstellen herantasten.

Karl Franz

 Bibelfest

Ich habe letztens geträumt, dass ich Teil einer christlichen Punk-Band war. Unser größter Hit: »Jesus muss sterben, damit wir leben können«.

David Sowka

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 28.10.:

    Das Schweizer Nachrichtenportal Watson preist den aktuellen Titel der Novemberausgabe im "Chat-Futter" an.

  • 03.10.: Der MDR kramt bei der Debatte, ob Ostdeutschland in den Medien schlechtgeredet wird, die Zonen-Gaby wieder hervor.
  • 26.09.:

    Noch-Grünenchefin Ricarda Lang retweetet "ihren" Onlinecartoon vom 25.09.

  • 18.09.: TITANIC-Zeichnerin Hilke Raddatz ("Briefe an die Leser") ist mit dem Wilhelm-Busch-Preis geehrt worden. Die SZLZ und der NDR berichten.
  • 12.09.:

    "Heute detoxe ich im Manager-Retreat im Taunus": TITANIC-Chefredakteurin Julia Mateus im Interview mit dem Medieninsider.

Titanic unterwegs
05.11.2024 Sylt, Feuerwache Tinnum Gerhard Henschel
05.11.2024 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview«
07.11.2024 Hamburg, Centralkomitee TITANIC-Boygroup mit Gsella, Sonneborn und Schmitt