Humorkritik | September 2022

September 2022

»Das betont Eindringliche der Satire ist unnötig. Es genügt durchaus, die Dinge so darzustellen, wie sind sind. Sie sind an sich schon lächerlich genug.«
Jules Renard

The Marvelous Mrs. May

Nachdem ich mich an dieser Stelle bereits lobend über »The Marvelous Mrs. Maisel« geäußert habe (TITANIC 6/18), möchte ich als kleine Fußnote eines ihrer historischen Vorbilder würdigen: Elaine May, die im März kurz vor ihrem 90. Geburtstag einen lang fälligen Ehren-Oscar entgegennehmen durfte und die auf der Bühne wie auch im Kino Comedy-Geschichte geschrieben hat. May kennt man hierzulande am ehesten noch von ihren Auftritten bei Woody Allen, filmhistorisch interessierte »Wussten Sie schon?«-Nervensägen dürften auch mit »Ishtar« vertraut sein, der in keiner Liste notorischer Kinoflops fehlen darf und Mays Regiekarriere 1987 abrupt beendete. Über ihren frühen Werdegang ist dank zahlreicher von ihr selbst in die Welt gesetzter Halbwahrheiten erfrischend wenig bekannt, zum Star wurde sie als Teil des Duos »Nichols & May« mit Sketchen über passiv-aggressive jüdische Mütter und unbarmherzige Telefonistinnen. Mays Partner Mike Nichols sattelte in den 1960er-Jahren erfolgreich auf Film- und Theaterregie um (»Wer hat Angst vor Virginia Woolf?«, »Die Reifeprüfung«); May tat es ihm nach, fing sich aber schnell einen Ruf als »die Schwierige« ein, weil sie Drehpläne ignorierte und sich monatelang im Schneideraum verschanzte, bis ihr das Studio mit Klagen drohte.

Mehr als ein paar teils unter Pseudonym abgelieferte Drehbücher sowie vier eigene Regiearbeiten in sechzehn Jahren waren deshalb leider nicht drin; darunter sind aber immerhin zwei brillante Komödien, von deren deutschen Verleihtiteln aus der »Palim! Palim!«-Ära man sich nicht abschrecken lassen sollte. In »Keiner killt so schlecht wie ich« (»A New Leaf«, 1971) hat es der Heiratsschwindler Walter Matthau auf eine von May gespielte schrullige Biologin abgesehen. Wie der Griesgram mit Glassplittern im Knie um die Hand der weltfremden alten Jungfer anhält, sie später als »eine Gefahr für die gesamte westliche Zivilisation« verflucht und Mordpläne gegen sie ersinnt, sich aber schließlich doch für sie erwärmt, ohne dass es allzu sentimental zugeht, das lässt sich immerhin im Stream nachschauen.

Als Wegbereiterin des Fremdscham-Humors erweist sich May mit »Pferdewechsel in der Hochzeitsnacht« (»The Heartbreak Kid«, 1972), in dem ein zutiefst unsympathischer Protagonist seine schmucklose jüdische Braut (gespielt von Mays Tochter Jeannie Berlin) kurz nach dem Ja-Wort abserviert, um einer hübschen »Schickse« den Hof zu machen. Manches hier erinnert an die derbsten Stellen bei Philip Roth, lustig geht es nicht nur dank der Dialoge von Neil Simon zu, sondern auch dank der Regisseurin, die ähnlich wie Nichols in seiner »Reifeprüfung« weder vor unbehaglichen Gesprächspausen noch vor langen Einstellungen zurückschreckt, in denen erbarmungslos aneinander vorbeigeredet wird. Den »Pferdewechsel«, der in Deutschland nie auf DVD erschienen ist, sich aber im Original in voller Länge auf Youtube findet, sollten Sie sich anschauen – egal, ob Sie damit den 50. Geburtstag des Films oder den 90. seiner Regisseurin ehren wollen.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 It’s us, hi, Kulturwissenschaftler Jörn Glasenapp!

Dass Sie als Verfasser einer Taylor-Swift-Monographie Ihren Gegenstand öffentlich verteidigen, etwa im Deutschlandfunk Nova oder bei Zeit Campus: geschenkt. Allein, die Argumente, derer Sie sich dafür bedienen, scheinen uns sanft fragwürdig: Kritik an Swift sei eine Sache »alter weißer Männer«, im Feuilleton herrsche immer noch König Adorno, weshalb dort Pop und »Kulturindustrie« unentwegt verdammt würden, und überhaupt sei die zelebrierte Verachtung des Massengeschmacks eine ausgesprochen wohlfeile Methode, Distinktion zu erzeugen, usw.

Je nun, Glasenapp: Wir sind in der privilegierten Position, dass es uns erst mal egal sein kann, ob Taylor Swift nun gute Kunst macht oder schlechte. Wir sind da pragmatisch: Manchmal macht das Lästern Spaß, manchmal der Applaus, je nachdem, wer sich gerade darüber ärgert. An Ihnen fällt uns bloß auf, dass Sie selbst so ein peinlicher Distinktionswicht sind! Denn wenn unter alten weißen Männern Swiftkritik tatsächlich Konsens und Massensport ist, dann sind Sie (*1970) wieder nur der eine nervige Quertreiber, der sich abheben will und dazwischenquäkt: Also ich find’s eigentlich ganz gut!

Finden das eigentlich auch ganz gut: Ihre Affirmations-Aficionados von Titanic

 Eine dicke Nuss, »ZDF heute«,

hast Du uns da zu rechnen gegeben: »Die Summe aus sinkenden Ticketverkäufen und gestiegenen Kosten« führe dazu, dass Festivals heutzutage meist ein »Minusgeschäft« seien.

Also wenn man die Ticketverkäufe und die gestiegenen Kosten addiert, wie man es ja in der Erstsemester-BWL-Vorlesung gelernt hat, und davon ausgeht, dass die Ticketverkäufe trotz Flaute größer als Null bleiben und auch die Kosten eine positive Zahl bilden, die Summe entsprechend ebenfalls positiv bleibt (und kein »Minusgeschäft« ergeben kann), dann müsste das Ergebnis doch sein … hmm … ja, genau: dass Du wirklich keine Ahnung von Mathe hast.

Aber mach Dir nichts draus, dafür hast Du ja Deine Zählsorger/innen von Titanic

 Kann es sein, Tod,

dass Du, so wie alle anderen in der Handwerksbranche auch, mit Nachwuchsmangel zu kämpfen hast? Und dass Du deshalb Auszubildende akzeptieren musst, die schon bei den Basiskompetenzen wie Lesen Defizite aufweisen?

Oder hast Du, der Seniorchef höchstpersönlich und wieder zu eitel, eine Brille aufzusetzen, am 11. August beim gerade mal 74 Jahre alten Kabarettisten Richard Rogler angeklopft? Nur, um dann einen Tag später, nachdem Dir der Fehler aufgefallen war, beim 91jährigen Bauunternehmer und Opernballbesucher Richard Lugner vorbeizuschauen?

Antwort bitte ausschließlich schriftlich oder fernmündlich an Titanic

 Etwas unklar, mallorquinische Demonstrant/innen,

war uns, warum wir Euch bei den Demos gegen den Massentourismus immer wieder palästinensische Flaggen schwenken sehen. Wir haben lange darüber nachgedacht, welchen logischen Zusammenhang es zwischen dem Nahostkonflikt und Eurem Anliegen geben könnte, bis es uns einfiel: Na klar, Ihr macht Euch sicherlich stark für eine Zwei-Staaten-Lösung, bei der der S’Arenal-Streifen und das West-Malleland abgeteilt werden und der Rest der Insel Euch gehört.

Drücken die diplomatischen Daumen: Eure Friedenstauben von Titanic

 Gute Güte, sehr unverehrter Hassan Nasrallah!

Gute Güte, sehr unverehrter Hassan Nasrallah!

Sie sind Chef der Hisbollah, und ein neues Propagandavideo Ihrer freundlichen Organisation war mit einem Satz unterlegt, den Sie bereits 2018 gesagt haben sollen: Die Hisbollah besitze »Präzisions- und Nicht-Präzisionsraketen und Waffenfähigkeiten«, die Israel »mit einem Schicksal und einer Realität konfrontieren werden, die es sich nicht ausmalen kann«.

Das, Nasrallah, glauben wir, verkörpern Sie doch selbst eine Realität, die wir agnostischen Seelchen uns partout nicht ausmalen können: dass das Schicksal von Gott weiß wie vielen Menschen von einem Knall- und Sprengkopf wie Ihnen abhängt.

Ihre Präzisions- und Nicht-Präzisionsraketenwerferin Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Meine Mitbewohnerin

legt Dinge, die nicht mehr so ganz intakt sind, in Essig ein. Dabei ist es egal, ob es sich um verkalkte, schmutzige oder verschimmelte Dinge handelt. Ich würde bei ihr den Verbrauch von Salzsäure in den kommenden Jahren intensiv beobachten – gerade falls ihr Partner unerwarteterweise verschwinden sollte.

Fia Meissner

 Fachmann fürs Leben

Im Gegensatz zur Schule hat man im Zivildienst viele nützliche Dinge gelernt. Zum Beispiel, dass man die Körper von Menschen, die sich selbst nicht mehr bewegen können, regelmäßig umlagert, damit keine Seite wund wird. Um anhaltenden Druck auf die Haut zu minimieren, wende ich auch heute noch die Pfirsiche in der Obstschale alle paar Stunden.

Friedrich Krautzberger

 Aus einer Todesanzeige

»Wer sie kannte, weiß was wir verloren haben.« Die Kommasetzung bei Relativsätzen.

Frank Jakubzik

 Europa aphrodisiakt zurück

Wenn es hierzulande etwas im Überfluss gibt, dann verkalkte Senioren und hölzerne Greise. Warum also nicht etwas Sinnvolles mit ihnen anfangen, sie zu Pulver zerreiben und in China an Tiger gegen Schlaffheit der Genitalien verkaufen?

Theobald Fuchs

 Unwirtliche Orte …

… sind die ohne Kneipe.

Günter Flott

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 29.08.:

    Die FR erwähnt den "Björnout"-Startcartoon vom 28.08.

  • 27.08.: Bernd Eilert schreibt in der FAZ über den französischen Maler Marcel Bascoulard.
  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

  • 29.01.:

    Ein Nachruf auf Anna Poth von Christian Y. Schmidt im ND.

  • 13.04.:

    HR2 Kultur über eine TITANIC-Lesung mit Katinka Buddenkotte im Club Voltaire.

Titanic unterwegs
13.09.2024 Stade, Schwedenspeicher Ella Carina Werner
14.09.2024 Frankfurt, Museum für Komische Kunst Bernd Pfarr: »Knochenzart«
16.09.2024 Wiedensahl, Wilhelm-Busch-Geburtshaus Hilke Raddatz mit Tillmann Prüfer
17.09.2024 Stadthagen, Wilhelm-Busch-Gymnasium Wilhelm-Busch-Preis Hilke Raddatz mit Bernd Eilert