Humorkritik | September 2022

September 2022

»Das betont Eindringliche der Satire ist unnötig. Es genügt durchaus, die Dinge so darzustellen, wie sind sind. Sie sind an sich schon lächerlich genug.«
Jules Renard

Gut und lausig

Manche Bücher sind »weder gut noch schlecht, sondern beides« (Mentz, 2004): zum Beispiel »Die große Brocklaus« alias »Das komplett erfundene Lexikon« von Axel Fröhlich, Oliver Kuhn und Alexandra Reinwarth, das bereits vor zehn Jahren bei Knaur erschienen, mir aber erst jetzt in die Hände gefallen ist. Lexikoneinträge wie der übers »Perpetuum Immobile« (»ein Gerät oder Konstrukt, das maximale Energiezufuhr in nichts verwandelt«), übers »Nihilit« (ein »Sekundenkleber, der exakt so lange hält, bis man testet, ob er hält«) oder übers fernöstliche »Borugak« (»die japanische Kunst, wie man als Meister seinen Lehrling zusammenfaltet«) veralbern recht hübsch Wissenschaft oder Alltagserfahrungen; und Unglücksraben wie »Kern, Matthias« (»der einzige bekannte Mensch, der seinen Schutzengel umgebracht hat«) oder der multiple Schachmeister »Pattjajev, Nikolov«, der sich für die Weltmeisterschaft 1985 mit all seinen neun Persönlichkeiten qualifizierte, im Finale gegen sich selbst antrat, über seinen Sieg so froh wie über seine Niederlage unglücklich war und beschloss: »Schach ist für uns jetzt uninteressant geworden. Wir werden uns nun dem Staffellauf zuwenden« – das sind Figuren und Sonderlinge, die es so ähnlich wirklich gibt.

Aber schlechtes Deutsch (»Die Herologie ist die Wissenschaft des Superhelden«), fehlgehende Kalauer (»Rosamunde« sei die »Zahn- und Zungenverfärbung, die der Rotweinkonsum nach sich zieht« – aber Dunkelrot ist kein Rosa) und irritierende Behauptungen (»So kann ein Besitzer der Global-Leader-Karte beanspruchen, dass sein Koffer zu Hause von einem Angestellten der Lufthansa gepackt, gebügelt und abgeholt wird«) ergeben noch lange keine Komik, deren Realitätsbezug von einem Koffer nämlich ganz gewiss nicht gewährleistet wird. Deshalb funktioniert auch das Lemma »Kratzachstan« nicht: Es könnte auf ein fiktives Land passen, als »medizinischer Fachbegriff für die Gegend in der Mitte des Rückens, an die man mit den Händen nicht kommt, wenn es juckt«, ist es deplaziert, weil diese Gegend eher »Nichtkratzachstan« heißen müsste.

Manchmal passt eine gute Erklärung nicht zum Stichwort, öfter werden gute Ideen durch ihre bemühte Erklärung zunichte gemacht wie im Fall der »Heisenbergbrille«. Deren schönes »Merkmal ist eine leichte, kaum wahrnehmbare Unschärfe«, aber schon verlabert sich der Text: »ähnlich der altersbedingten Makula-Degeneration, die dem Träger der Brille ein gemeinhin positiveres Weltbild ermöglicht. Hervorgerufen wird der Effekt durch den Schliff der Gläser, die eine Unregelmäßigkeit im stereoskopischen Halbbild verursachen, wodurch der Blick des Betrachters einer semantischen Subjektivität ausgesetzt ist«, blablabla.

Der Blick Ihres Hans Mentz aber, dem eine Makula-Degeneration gewiss kein positiveres Weltbild ermöglichen würde, ist niemals »einer semantischen Subjektivität ausgesetzt«, sondern allzeit objektiv.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Gute Frage, liebe »Süddeutsche«!

»Warum haben wir so viele Dinge und horten ständig weiter? Und wie wird man diese Gier wieder los?« teast Du Dein Magazin an, dasselbe, das einzig und allein als werbefreundliches Vierfarb-Umfeld für teuren Schnickschnack da ist.

Aber löblich, dass Du dieses für Dich ja heißeste aller Eisen anpackst und im Heft empfiehlst: »Man kann dem Kaufimpuls besser widerstehen, wenn man einen Schritt zurücktritt und sich fragt: Wer will, dass ich das haben will?«

Und das weiß niemand besser als Du und die Impulskundschaft von Titanic

 Du, »Hörzu Wissen«,

weißt, wie Werbung geht! Mit »Die Sucht zu töten« machtest Du so richtig Lust auf Deine aktuelle Ausgabe, um erläuternd nachzulegen: »Bestialisch, sadistisch, rätselhaft: Was Menschen zu mordenden Monstern macht – acht Täter und die Geschichten ihrer grausamen Verbrechen.«

Wer kann sich da der Faszination der »dunklen Welt der Serienkiller« noch entziehen? Aber am Ende, liebe Hörzu Wissen, ist in diesem Zusammenhang doch die Implikation Deines Slogans »Hörzu Wissen – das Magazin, das schlauer macht!« das Allergruseligste!

Da erschauert sogar

Die True-Crime-resistente Redaktion der Titanic

 Ah, »Galileo«!

Über die Arbeit von Türsteher/innen berichtest Du: »Viele Frauen arbeiten sogar als Türsteherinnen«. Wir setzen noch einen drauf und behaupten: In dieser Branche sogar alle!

Schmeißen diese Erkenntnis einfach mal raus:

Deine Pointen-Bouncer von Titanic

 Weiter so, uruguayischer Künstler Pablo Atchugarry!

Eine angeblich von Ihnen geschaffene Bronzeskulptur im englischen Cambridge soll an Prinz Philip erinnern, der dort von 1977 bis 2011 Kanzler der Universität war. Allerdings wird das Kunstwerk, das im Auftrag eines reichen Bauträgers angefertigt wurde, von vielen als verunglückt empfunden und zieht seit nunmehr zehn Jahren Spott auf sich.

Dass Sie mittlerweile die Urheberschaft leugnen, um Ihr Renommee als Künstler zu schützen, ist zwar verständlich, aber aus unserer Sicht völlig unnötig. Wenn sich das Konzept durchsetzt, lästige Promis, die uns über Jahrzehnte viel Zeit, Geld und Nerven gekostet haben, mit langlebigen Schrott-Monumenten zu schmähen, werden Sie sich vor Aufträgen bald kaum noch retten können. Und das Beste: Weil andere Großkopferte sich mit ihren Eskapaden zurückhalten würden, um nicht von Ihnen verewigt zu werden, sorgten Sie auch noch für Ruhe und gesellschaftlichen Frieden.

Hofft, dass dieser Vorschlag einen Stein ins Rollen bringt: Titanic

 Prophetisch, »Antenne Thüringen«?

Oder wie sollen wir den Song verstehen, den Du direkt nach der von Dir live übertragenen Diskussion zwischen Mario Voigt und Björn Höcke eingespielt hast? Zwar hat der Thüringer CDU-Fraktionschef Höckes Angebot einer Zusammenarbeit nach der Wahl ausgeschlagen. Aber es wettet ja so manche/r darauf, dass die Union je nach Wahlergebnis doch noch machthungrig einknickt. Du jedenfalls lässt im Anschluss den Musiker Cyril mit seinem Remake des Siebziger-Lieds »Stumblin’ in« zu Wort kommen: »Our love is alive / I’ve fallen for you / Whatever you do / Cause, baby, you’ve shown me so many things that I never knew / Whatever it takes / Baby, I’ll do it for you / Whatever you need / Baby, you got it from me.« Wenn das nicht mal eine Hymne auf eine blau-schwarze Koalition ist!

Hätte sich dann doch eher »Highway to Hell« gewünscht: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Finanz-Blues

Wenn ich bei meiner langjährigen Hausbank anrufe, meldet sich immer und ausnahmslos eine Raiffeisenstimme.

Theobald Fuchs

 Citation needed

Neulich musste ich im Traum etwas bei Wikipedia nachschlagen. So ähnlich, wie unter »Trivia« oft Pub-Quiz-Wissen gesammelt wird, gab es da auf jeder Seite einen Abschnitt namens »Calia«, voll mit albernen und offensichtlich ausgedachten Zusatzinformationen. Dank Traum-Latinum wusste ich sofort: Na klar, »Calia« kommt von »Kohl«, das sind alles Verkohl-Facts! Ich wunderte mich noch, wo so ein Quatsch nun wieder herkommt, wusste beim Aufwachen aber gleich, unter welcher Kategorie ich das alles ins Traumtagebuch schreiben konnte.

Alexander Grupe

 Die wahre Strafe

Verhaftet zu werden und in der Folge einen Telefonanruf tätigen zu müssen.

Fabio Kühnemuth

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 Nicht lustig, bloß komisch

Während ich früher schon ein kleines bisschen stolz darauf war, aus einer Nation zu stammen, die mit Loriot und Heinz Erhardt wahre Zen-Meister der Selbstironie hervorgebracht hat, hinterfrage ich meine humoristische Herkunft aufgrund diverser Alltagserfahrungen jetzt immer öfter mit Gedanken wie diesem: Möchte ich den Rest meines Lebens wirklich in einem Land verbringen, in dem man während seiner Mittagspause in ein Café geht, das vor der Tür vollmundig mit »leckerem Hunde-Eis« wirbt, und auf seine Bestellung »Zwei Kugeln Labrador und eine Kugel Schnauzer« statt des fest eingeplanten Lachers ein »RAUS HIER!« entgegengebrüllt bekommt?

Patric Hemgesberg

Vermischtes

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Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
07.05.2024 Köln, Stadthalle Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
07.05.2024 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview« mit Kathrin Hartmann
08.05.2024 Wiesbaden, Schlachthof Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
09.05.2024 Zürich, Friedhof Forum Thomas Gsella