Humorkritik | November 2022
November 2022
»Das ist ja oft das falsch Verstandene an Komödien: Wenn man selbst komisch sein will, wird das nichts. Man muss so ernst wie möglich spielen, ganz nah an der Katastrophe vorbei. Erst daraus entsteht der Witz.«
Uschi Glas
Aus der Sicht eines wilden Bären
Ein Wort sagt mehr als tausend Fotos. Besser noch ist ein Witzwort, um das Foto von seiner Banalität zu erlösen: Der gute alte Hans Reimann hat es 1925 in seiner Zeitschrift »Das Stachelschwein« ausprobiert, indem er zum Beispiel »Die Wirren in China« unter ein Foto von durcheinandergeworfenen Würsten schrieb oder über den technischen Fortschritt scherzte, indem er das Lichtbild einer glitzernden Schaufensterauslage mit dem Text versah: »Wunder der Fernphotographie! Blick auf Los Angeles (aufgenommen aus 1600 m Höhe, übertragen durch Nestles Dauerwellen«). Satire-Aficionados wissen, dass im Titanic-Vorläuferblatt Pardon, und zwar in dessen Nonsensteil »Welt im Spiegel«, diese Kunst in den 1960er- und 1970er-Jahren zur Reife geführt wurde. Und nun?
Nun kommt Max Kersting, der sich für seinen Band »Auf der Suche nach Trouble« (Eichborn) daranmachte, lustige Wörter auf alte Fotos zu schreiben, die er vielleicht in Familienalben oder im Altpapiercontainer gefunden hat. Findig ist er tatsächlich und meist auch witzig; selten bleibt die Pointe rätselhaft wie im Fall der zwei Pinguine, von denen der eine sagt: »Wenn du ein Mensch wärst, was für ein Mensch wärst du?« Und der andere antwortet: »Ein Vermieter«.
Wenn Kersting hingegen das Foto von vier Campern, die ihren Esstisch in der Pampa aufgestellt haben und stier zum Betrachter blicken, ganz cool mit der Zeile versieht: »Familie Schmidt aus der Sicht eines wilden Bären« – oder ihm zu der Frau, die an der Reling steht und aufs Meer schaut, dies einfällt: »Sie beobachtete die Möwen und dachte plötzlich nur noch: Scheiß drauf«: dann denkt Hans Mentz von diesem Buch das Gegenteil. Und sagt aus der Sicht eines alten Humorkritikers: Wer diese Schule des Neu-und-anders-Sehens durchlaufen hat, wird künftig manche Fotos mit neuen, anderen Augen sehen.