Humorkritik | Mai 2022

Mai 2022

»Unsre Zeit ist eine Parodie aller vorhergehenden.«
Friedrich Hebbel

Ein Loch in der Erde

Krieg fordert Opfer und ebnet ein, nicht nur in grauenhafter Buchstäblichkeit, sondern auch auf den künstlerischen Nebenschauplätzen. In Prag wurde die Premiere der Oper »Pantöffelchen« abgesagt – nicht wegen des russischen Komponisten Tschaikowski, sondern weil, so die Opernleitung, der »historische Kontext« des Stückes »sensibel« sei, man wolle derzeit keine »Erzählung über das große russische Reich« auf der Bühne; was man halt redet, wenn man befürchtet, das Publikum könnte die Darstellung der Zarin Katharina für putinverharmlosend halten o.s.ä. Andersrum wird ein Pantöffelchen daraus: Dem Libretto der Oper liegt eine frühe Erzählung Nikolai Gogols zugrunde, »Die Nacht vor Weihnachten«, und wer diese Geschichte aus dem Band »Abende auf dem Weiler bei Dikanka« heute liest, der findet sich wo wieder? In der Ukraine, irgendwo zwischen Kiew und Charkiw. Der Ukrainer Gogol als Zeichen der Solidarität, des Widerstands gar, denn schließlich gelingt es im Stück, der Zarin ihr Schuhwerk abzuluchsen: Ein geschickterer Opernsprecher hätte das argumentativ hinbekommen, aber man richtet sich ja im Kultur- wie in jedem Betrieb gern nach den Dümmsten und Bösestmeinenden.

Statt vielleicht mal in die Primärtexte zu schauen. Im Falle Gogol lohnt sich das nämlich. Denn der Autor der »Nase« zeigt bereits im Frühwerk sein komisches Talent, lässt den Mond klauen, den Teufel als tollpatschigen Liebhaber auftreten und sehr viel Alkohol in armen Bauern verschwinden. Über den Humor der Ukrainer ist dieser Tage bereits geschrieben worden, die Politikerin Weisband etwa referierte in der Zeit gallige Memes ukrainischer Kriegsopfer, und welch schöner Beschimpfungen die Saporoger Kosaken fähig waren, erfährt man aus ihrem (von Ilja Repin 1891 im Bild festgehaltenen) Brief an den türkischen Sultan: »Was für ein Ritter bist du zum Teufel, wenn du nicht mal mit deinem nackten Arsch einen Igel töten kannst?« Nicht ganz so blumig, aber doch recht unterhaltsam schimpft sich’s in Gogols »Dikanka«-Geschichten: »Ruchloser, geh und wasch dich zuerst! … Ein Topf möge deinem Vater auf den Schädel fallen! Auf dem Eise möge er ausgleiten! … War in deinem einäugigen Schädel auch nur ein Tröpfchen Hirn?« Über schlechten Schnupftabak heißt es: »Nicht mal eine alte Henne würde von diesem Tabak niesen!« Und man erfährt, dass »Deutscher« ein Synonym für einen Fremden ist, weshalb denn auch der Teufel persönlich einmal als »verfluchter Deutscher« beschimpft wird. Wenn das dem Botschafter Melnyk nicht gefällt, was dann?

Ein weiterer Quell des Komischen ist Gogols Umständlichkeit. Überall schiebt er glühend wichtige Vor- und Zwischenreden ein, in denen z.B. festgehalten wird, dass die folgende Erzählung (»Iwan Fjodorowitsch Schponjka und sein Tantchen«) nur zur Hälfte fertiggeworden sei, weil aus dem Papier der zweiten Hälfte die Gattin des Erzählers Pasteten gebacken habe; wer aber den Rest der Geschichte erfahren wolle, der müsse nur nach Gadjatsch fahren und Stepan Iwanowitsch Kurotschka um die Fortsetzung bitten, der wohnt nämlich »nicht weit von der steinernen Kirche«, da ist »ein schmales Gäßchen, und wenn man in dieses Gäßchen kommt, so ist es das zweite oder dritte Tor«; oder aber man geht bitteschön gleich auf den Markt und sucht nach ihm – man erkennt ihn sofort, diesen Stepan Iwanowitsch, denn »im Gehen fuchtelt er immer mit den Armen. Der verstorbene dortige Assessor Denis Petrowitsch pflegte, wenn er ihn von ferne kommen sah, zu sagen: ›Schaut, schaut, da kommt eine Windmühle!‹«

Menschen sind Windmühlen, Kurzsichtige sollen statt Brillen »die Räder vom Kommissärswagen« auf die Nase setzen, und jemandes Kopf sitzt in seinem riesigen Stehkragen »wie in einer Kutsche«: So unangemessen, sprich: komisch sind hier die Vergleiche. Schwer vorzustellen jedenfalls, dass jemand wie Putin seine Freude haben könnte an solcher Literatur, geschweige denn an zärtlich geschilderten Männerküssen: »Als er herangetreten war, schloss er Iwan Fjodorowitsch in seine Arme und küsste ihn erst auf die rechte, dann auf die linke und dann wieder auf die rechte Wange. Iwan Fjodorowitsch gefiel dieses Küssen sehr gut, denn die dicken Wangen des Fremden erschienen seinen Lippen wie zwei weiche Polster.« Nein, wenn dem Kremlmann etwas bei Gogol gefallen sollte, dann eventuell der krude, untypisch humorlose »Taras Bulba«; diese Langerzählung (aus dem »Dikanka«-Nachfolgeband »Mirgorod«) müssen Sie darum auch nicht lesen, aber das »Tantchen« und die »Nacht vor Weihnachten« und die »Mainacht« und den gruselig-komischen »Wij« und die anderen Texte aus »Dikanka« und »Mirgorod«, die sehr wohl, denn seien Sie ehrlich: Was wissen Sie denn schon über das Leben der ukrainischen Kleinbauern aus alter Zeit, dieser Kosaken und Säufer, dieser armen Theologiestudenten und frierenden kleinen Leutchen, die so bescheiden wohnen, dass man es eigentlich auch für einen Witz hält: »Ein Loch in der Erde – das war das ganze Haus!«

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Cafe Extrablatt (Bockenheimer Warte, Frankfurt)!

»… von früh bis Bier!« bewirbst Du auf zwei großflächigen Fassadentafeln einen Besuch in Deinen nahe unserer Redaktion gelegenen Gasträumlichkeiten. Geöffnet hast Du unter der Woche zwischen 8:00 und 0:00 bzw. 01:00 (freitags) Uhr. Bier allerdings wird – so interpretieren wir Deinen Slogan – bei Dir erst spät, äh, was denn überhaupt: angeboten, ausgeschenkt? Und was verstehst Du eigentlich unter spät? Spät in der Nacht, spät am Abend, am Spätnachmittag oder spätmorgens? Müssen wir bei Dir in der Früh (zur Frühschicht, am frühen Mittag, vor vier?) gar auf ein Bier verzichten?

Jetzt können wir in der Redaktion von früh bis Bier an nichts anderes mehr denken. Aber zum Glück gibt es ja die Flaschenpost!

Prost! Titanic

 Gesundheit, Thomas Gottschalk!

In Ihrem Podcast »Die Supernasen« echauffierten Sie sich mit einem fast schon dialektischen Satz zu Ihrer eigenen Arbeitsmoral über die vermeintlich arbeitsscheuen jungen Leute: »Es gab für mich nie eine Frage – ich war nie in meinem Leben krank, wenn ich im Radio oder im Fernsehen aufgetreten bin. Ich habe oft mit Schniefnase irgendwas erzählt.«

Das hat bei uns zu einigen Anschlussfragen geführt: Wenn Sie »nicht krank«, aber mit Schniefnase und im Wick-Medinait-Delirium vor einem Millionenpublikum zusammenhanglose Wortfetzen aneinandergereiht haben – war das nicht eine viel dreistere, weil höher bezahlte Form der Arbeitsverweigerung als eine Krankmeldung?

Wünscht Ihnen nachträglich gute Besserung: Titanic

 Also echt, Hollywood-Schauspieler Kevin Bacon!

»Wie wäre es eigentlich, wenn mich niemand kennen würde?« Unter diesem Motto verbrachten Sie mit falschen Zähnen, künstlicher Nase und fingerdicken Brillengläsern einen Tag in einem Einkaufszentrum nahe Los Angeles, um Ihre Erfahrungen als Nobody anschließend in der Vanity Fair breitzutreten.

Die Leute hätten sich einfach an Ihnen vorbeigedrängelt, und niemand habe »Ich liebe Dich!« zu Ihnen gesagt. Als Sie dann auch noch in der Schlange stehen mussten, um »einen verdammten Kaffee zu kaufen«, sei Ihnen schlagartig bewusst geworden: »Das ist scheiße. Ich will wieder berühmt sein.«

Das ist doch mal eine Erkenntnis, Bacon! Aber war der Grund für Ihre Aktion am Ende nicht doch ein anderer? Hatten Sie vielleicht einfach nur Angst, in die Mall zu gehen und als vermeintlicher Superstar von völlig gleichgültigen Kalifornier/innen nicht erkannt zu werden?

Fand Sie nicht umsonst in »Unsichtbare Gefahr« am besten: Titanic

 Mahlzeit, Erling Haaland!

Mahlzeit, Erling Haaland!

Zur Fußballeuropameisterschaft der Herren machte erneut die Schlagzeile die Runde, dass Sie Ihren sportlichen Erfolg Ihrer Ernährung verdankten, die vor allem aus Kuhherzen und -lebern und einem »Getränk aus Milch, Grünkohl und Spinat« besteht.

»Würg!« mögen die meisten denken, wenn sie das hören. Doch kann ein Fußballer von Weltrang wie Sie sich gewiss einen persönlichen Spitzenkoch leisten, der die nötige Variation in den Speiseplan bringt: morgens Porridge aus Baby-Kuhherzen in Grünkohl-Spinat-Milch, mittags Burger aus einem Kuhleber-Patty und zwei Kuhherzenhälften und Spinat-Grünkohl-Eiscreme zum Nachtisch, abends Eintopf aus Kuhherzen, Kuhleber, Spi… na ja, Sie wissen schon!

Bon appétit wünscht Titanic

 Augen auf, »dpa«!

»Mehrere der Hausangestellten konnten weder Lesen noch Schreiben« – jaja, mag schon sein. Aber wenn’s die Nachrichtenagenturen auch nicht können?

Kann beides: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Reifeprozess

Musste feststellen, dass ich zum einen langsam vergesslich werde und mir zum anderen Gedanken über die Endlichkeit allen Lebens mache. Vor meiner Abreise in den Urlaub vergaß ich zum Beispiel, dass noch Bananen in meiner Obstschale liegen, und dann dachte ich zwei Wochen darüber nach, wie lange es wohl dauert, bis die Nachbarn wegen des Geruchs und der Fliegen aus meiner Wohnung die Kripo alarmieren.

Loreen Bauer

 Lifehack von unbekannt

Ein Mann, der mir im Zug gegenüber saß, griff in seine Tasche und holte einen Apfel heraus. Zu meinem Entsetzen zerriss er ihn mit bloßen Händen sauber in zwei Hälften und aß anschließend beide Hälften auf. Ich war schockiert ob dieser martialischen wie überflüssigen Handlung. Meinen empörten Blick missdeutete der Mann als Interesse und begann, mir die Technik des Apfelzerreißens zu erklären. Ich tat desinteressiert, folgte zu Hause aber seiner Anleitung und zerriss meinen ersten Apfel! Seitdem zerreiße ich fast alles: Kohlrabi, Kokosnüsse, anderer Leute Bluetoothboxen im Park, lästige Straßentauben, schwer zu öffnende Schmuckschatullen. Vielen Dank an den Mann im Zug, dafür, dass er mein Leben von Grund auf verbessert hat.

Clemens Kaltenbrunn

 Unübliche Gentrifizierung

Zu Beginn war ich sehr irritiert, als mich der Vermieter kurz vor meinem Auszug aufforderte, die Bohr- und Dübellöcher in den Wänden auf keinen Fall zu füllen bzw. zu schließen. Erst recht, als er mich zusätzlich darum bat, weitere Löcher zu bohren. Spätestens, als ein paar Tage darauf Handwerkerinnen begannen, kiloweise Holzschnitzel und Tannenzapfen auf meinen Böden zu verteilen, wurde mir jedoch klar: Aus meiner Wohnung wird ein Insektenhotel!

Ronnie Zumbühl

 Claims texten, die im Kopf bleiben

Ist »Preissturz bei Treppenliften« wirklich eine gute Catchphrase?

Miriam Wurster

 Verabschiedungsrituale

Wie sich verabschieden in größerer Runde, ohne dass es ewig dauert? Ich halte es so: Anstatt einen unhöflichen »Polnischen« zu machen, klopfe ich auf den Tisch und sage: »Ich klopf mal, ne?«. Weil mir das dann doch etwas unwürdig erscheint, klopfe ich im Anschluss noch mal bei jeder Person einzeln. Dann umarme ich alle noch mal, zumindest die, die ich gut kenne. Den Rest küsse ich vor lauter Verunsicherung auf den Mund, manchmal auch mit Zunge. Nach gut zwanzig Minuten ist der Spuk dann endlich vorbei und ich verpasse meine Bahn.

Leo Riegel

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.08.2024 Kassel, Caricatura-Galerie Miriam Wurster: »Schrei mich bitte nicht so an!«
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst Die Dünen der Dänen – Das Neueste von Hans Traxler
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst »F. W. Bernstein – Postkarten vom ICH«
09.08.2024 Bremen, Logbuch Miriam Wurster