Humorkritik | Juli 2022

Juli 2022

»Es gibt 100 Witzige gegen einen der Verstand hat, ist ein wahrer Satz, womit sich mancher witzlose Dummkopf beruhigt, der bedenken sollte, wenn das nicht zuviel von einem Dummkopf gefordert heißt, daß es wieder 100 Leute, die weder Witz noch Verstand haben, gegen einen gebe, der Witz hat.«
Georg Christoph Lichtenberg

Heilkunst

Über »Nanette«, das Comedy-Programm der Australierin Hannah Gadsby, habe ich an dieser Stelle schon lobende Worte verloren (TITANIC 8/2018). Ein oft wiederholter Satz in dieser Show, die ein großer Hit bei Netflix war (und deshalb von Gadsby mittlerweile »Nanetteflix« genannt wird), lautet: »I need to tell my story properly«, und genau das tut sie nun, sie erzählt ihre Geschichte richtig, mit ihrer Autobiografie »Ten Steps to Nanette« (deutsche Ausgabe: »Zehn Schritte Richtung Nanette«, Rowohlt Polaris). Von der Jugend im tasmanischen Kaff Smithton, über Missbrauchserfahrungen, ihr Outing bzw. Nichtouting als Lesbe, schreckliche Jahre in Niedriglohnarbeit, Vergewaltigung und Depression, ihre Autismus-Diagnose und auch über das Glück, das sie hatte, bis hin zu ihrem plötzlichen Welterfolg. Manche Geschichte kennt man schon aus ihren Shows, nicht nur aus »Nanette«, sondern auch aus dem Nachfolger »Douglas« (ebenfalls auf Netflix). Doch hier erscheinen sie in einem anderen Licht, all die Traumata, die Gadsby zu ihrem Thema macht und die sie erzählt, ohne sie für einen Lacher zu verkaufen; also genau so, wie sie es in der Show angekündigt hat. Kunst ist hier ein Mittel zur Bewältigung von Angst und Trauma, wie es Louise Bourgeois propagierte, zitiert zu Beginn des Buches: »Art is restauration«. Und Trauma, so Gadsby, folge niemals einer geraden Linie, weshalb vieles, insbesondere »Step 4 – The Wilderness Years«, eine lose Zusammenstellung von Anekdoten ist. Gadsby wäre nicht Gadsby, würde sie nicht auch das Genre Autobiografie mit ihrem ganz eigenen Tempo bespielen – der Epilog kommt zu Beginn, der Prolog zum Schluss, und immer mal wieder gibt es Triggerwarnungen. Wir lernen sogar die Nanette kennen, die dem Buch und der Show den Namen gab (Spoiler: eine weniger intensive Begegnung als erwartet).

Im Komikbusiness ist Timing das Wichtigste, und Gadsby erzählt das alles tatsächlich wunderbar unterhaltsam, lehrreich und mit einem beneidenswerten Gespür für die richtige Geschwindigkeit. Aber ist es auch lustig – bei all den düsteren Themen, die sie behandelt?

Und ob. Durch seinen anekdotischen Charakter liest sich »Ten Steps to Nanette« wie Stand-up, aber ernsthafter, mit dem Schwerpunkt auf den persönlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Pointen gibt es trotzdem zuhauf: »Im Laufe eines Jahres hatte ich alle Bücher über Kunstgeschichte aus der Bibliothek mitgehen lassen. Alle drei.« Nebenbei lernt man so einiges über australische und vor allem tasmanische Lebens- und Denkweisen und über das Leben mit Autismus. Die letzten Kapitel, die vom Entstehungsprozess von »Nanette« handeln und den Leser gewissermaßen in den Backstage-Bereich mitnehmen, sind auch aus Sicht der Humortheorie interessant – Ihr Mentz war hier jedenfalls »at the edge of his seat«, wie der Australier sagt. So vergleicht sich Gadsby ganz unbescheiden mit Michelangelo: »Wenn er seine Figuren formte, passte er den Marmor nicht seinem Vorhaben an, sondern arbeitete mit dem, was der Stein ihm in seinem Inneren bot. Mit anderen Worten: Er versuchte nicht, das Medium zu beherrschen, er befand sich vielmehr in einem Gespräch damit. Meine Marmorblöcke sind all die Gedanken, mit denen mein Hirn sich am meisten beschäftigen will, meine Werkzeuge sind die Regeln der Comedy, und meine Show ist praktisch das Ergebnis, zu dem ich finde, während ich meine Gedankenblöcke mit Hammer und Meißel in Form von Set-ups und Punchlines von allen Seiten behaue.«

Ich empfehle ganz besonders das Hörbuch, gelesen von Gadsby herself. Die stimmlichen Imitationen, besonders ihrer überlebensgroßen Mutter, sind ganz wunderbar gelungen.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Die Frage, weshalb Joe Biden in seinem hohen Alter noch mal für das Präsidentenamt kandidiert, anstatt sich zur Ruhe zu setzen, kommentieren Sie so: »Warum muss man eigentlich loslassen? Wenn man etwas gerne macht, wenn man für etwas lebt, dann macht man halt weiter, soweit man kann. Ich schreibe meine Bücher, weil es mir Spaß macht und weil ich nicht Golf spielen kann. Und irgendwie muss ich mich ja beschäftigen.«

Daran haben wir, Wickert, natürlich nicht gedacht, dass der sogenannte mächtigste Mann der Welt womöglich einfach keine Lust hat, aufzuhören, auch wenn er vielleicht nicht mehr ganz auf der Höhe ist. Dass ihn das Regieren schlicht bockt und ihm obendrein ein Hobby fehlt. Ja, warum sollte man einem alten Mann diese kleine Freude nehmen wollen!

Greifen Sie hin und wieder doch lieber zum Golfschläger statt zum Mikrofon, rät Titanic

 Ach, Scheuer-Andi,

wie der Spiegel meldet, wird niemand für Sie in den Bundestag nachrücken. Da scheinen die Fußstapfen wohl einfach zu groß zu sein.

Die Besten gehen immer zu früh …

Weiß Titanic

 Gute Frage, liebe »Süddeutsche«!

»Warum haben wir so viele Dinge und horten ständig weiter? Und wie wird man diese Gier wieder los?« teast Du Dein Magazin an, dasselbe, das einzig und allein als werbefreundliches Vierfarb-Umfeld für teuren Schnickschnack da ist.

Aber löblich, dass Du dieses für Dich ja heißeste aller Eisen anpackst und im Heft empfiehlst: »Man kann dem Kaufimpuls besser widerstehen, wenn man einen Schritt zurücktritt und sich fragt: Wer will, dass ich das haben will?«

Und das weiß niemand besser als Du und die Impulskundschaft von Titanic

 Hello, Grant Shapps (britischer Verteidigungsminister)!

Eine düstere Zukunft haben Sie in einem Gastbeitrag für den Telegraph zum 75jährigen Bestehen der Nato skizziert. Sie sehen eine neue Vorkriegszeit gekommen, da sich derzeit Mächte wie China, Russland, Iran und Nordkorea verbündeten, um die westlichen Demokratien zu schwächen. Dagegen hülfen lediglich eine Stärkung des Militärbündnisses, die weitere Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Rüstungsgüter und Munition. Eindringlich mahnten Sie: »Wir können uns nicht erlauben, Russisch Roulette mit unserer Zukunft zu spielen.«

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass es beim Russisch Roulette umso besser fürs eigene Wohlergehen ist, je weniger Munition im Spiel ist und Patronen sich in der Trommel befinden.

Den Revolver überhaupt vom eigenen Kopf fernhalten, empfehlen Ihre Croupiers von der Titanic

 Hoppla, Berliner Gefängnischefs!

Drei von Euch haben laut Tagesspiegel wegen eines Fehlers der schwarz-roten Regierungskoalition statt einer Gehaltserhöhung weniger Geld bekommen. Aber der Ausbruch von Geldnöten soll durch einen Nachtragshaushalt verhindert werden. Da ja die Freundschaft bekanntlich beim Geld endet: Habt Ihr drei beim Blick auf Eure Kontoauszüge mal kurz über eine Ersatzfreiheitsstrafe für die nachgedacht, die das verbrochen haben?

Wollte diese Idee nur mal in den Raum stellen: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 100 % Maxx Dad Pow(d)er

Als leidenschaftlicher Kraftsportler wünsche ich mir, dass meine Asche eines Tages in einer dieser riesigen Proteinpulverdosen aufbewahrt wird. Auf dem Kaminsims stehend, soll sie an mich erinnern. Und meinen Nachkommen irgendwann einen köstlichen Shake bieten.

Leo Riegel

 Tödliche Pilzgerichte (1/1)

Gefühlte Champignons.

Lukas Haberland

 Altersspezifisch

Ich gehöre noch zu einer Generation, deren Sätze zu häufig mit »Ich gehöre noch zu einer Generation« anfangen.

Andreas Maier

 Gute Nachricht:

Letzte Woche in der Therapie einen riesigen Durchbruch gehabt. Schlechte Nachricht: Blinddarm.

Laura Brinkmann

 Finanz-Blues

Wenn ich bei meiner langjährigen Hausbank anrufe, meldet sich immer und ausnahmslos eine Raiffeisenstimme.

Theobald Fuchs

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.05.2024 Mettingen, Schultenhof Thomas Gsella
03.05.2024 Stuttgart, Im Wizemann Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
04.05.2024 Gütersloh, Die Weberei Thomas Gsella
04.05.2024 Jena, F-Haus Martin Sonneborn mit Sibylle Berg