Humorkritik | Juli 2022

Juli 2022

»Es gibt 100 Witzige gegen einen der Verstand hat, ist ein wahrer Satz, womit sich mancher witzlose Dummkopf beruhigt, der bedenken sollte, wenn das nicht zuviel von einem Dummkopf gefordert heißt, daß es wieder 100 Leute, die weder Witz noch Verstand haben, gegen einen gebe, der Witz hat.«
Georg Christoph Lichtenberg

Bitte nicht vergessen

»Alms for Oblivion«, also »Almosen fürs Vergessen«, ist der rätselhafte Obertitel einer Reihe von zehn Romanen des britischen Autors Simon Raven, der hierzulande nicht einmal vergessen werden konnte, da seine Werke erst seit knapp zwei Jahren in deutscher Übersetzung erscheinen (beim Berliner Elfenbein Verlag): zwei Romane pro Jahr, im März war Nummer 5 dran, im Herbst kommt Band 6. In England wurden sie zwischen 1964 und 1975 publiziert, übermäßig populär ist Raven auch dort nicht geworden. Er schreibe, schreibt er, für Leser, die »gebildet, weltgewandt, skeptisch und snobistisch sind«, d. h.: »sie ziehen guten Geschmack dem schlechten vor«, kurz: Es sind »Leute wie ich«. Bestseller kommen so nicht zustande, bestenfalls bildet sich eine Gemeinde.

Seit ich die ersten vier Romane gelesen habe, zähle ich mich dazu.

Ravens Grundton ist ironisch, seine Haltung beinahe zynisch, und fast immer geht es bei ihm ums Geld: »Art for art’s sake, money for God’s sake.« Liebe ist selten selbstlos, Sex wird vor allem als Machtmittel eingesetzt, anständige Menschen sind die Ausnahme. Arglosigkeit wird nicht belohnt, Naivität ist sträflich. Diese illusionslose Weltsicht unterscheidet die englische Spielart des Realismus, von Jane Austen bis Anthony Trollope, von der deutschen, die dagegen oft sentimental und manchmal moralisierend wirkt.

Ravens Romane umfassen einen Zeitraum von fast dreißig Jahren, der erste spielt unmittelbar nach Ende des 2. Weltkriegs. Es ist eine Campusgeschichte, in deren Mittelpunkt der Titelheld »Fielding Gray« steht, dessen sexueller Fehltritt katastrophale Folgen hat. Raven schreibt nicht bloß hier aus eigener Erfahrung. Aus seiner bisexuellen Orientierung machte er nie ein Hehl, auch die wechselnden Milieus kennt er: die britische Armee in Indien, eine deutsche Universität, Verlage und Redaktionen in London. Sein Personal kommt immer aus den gleichen Schichten: untere Oberklasse bis obere Mittelklasse – in England gab es da noch feine Unterschiede. Der Zeitgeist war offenbar entspannt: »Niemand kümmerte sich darum, was du im Bett treiben oder über Gott sagen mochtest – eine sehr kultivierte Haltung …«

Ravens Romanzyklus wird reflexartig mit Anthony Powells »Tanz zur Musik der Zeit« verglichen, vermutlich, weil auch dieser zehn Bände umfasst. Dabei ist Raven witziger, seine Dialoge sind flotter, seine Plots solider konstruiert. Oscar Wilde, Evelyn Waugh und P.G. Wodehouse stehen ihm stilistisch und motivisch näher. Gehobene Unterhaltungsliteratur, kann man dazu sagen – ich würde von unterhaltender Hochliteratur sprechen.

Man kann übrigens jeden Roman der »Oblivion«-Reihe auch als Einzelstück lesen. Für Liebhaber eines gepflegten MacGuffins – hier geht es um die Weltformel eines obskuren Mathematikers – empfehle ich Teil III, »Die Säbelschwadron«; für Freunde exotischer Verhältnisse »Blast nun zum Rückzug« über das in den letzten Zügen liegende britische Empire. Wer sich einen ersten Eindruck von diesem Lesevergnügen verschaffen möchte, dem ist mit einer alten BBC-Serie bei Youtube geholfen: »The Pallisers«, nach einer Vorlage des bereits genannten Anthony Trollope. Drehbuch: Simon Raven.

Man muss sich ja nicht gleich alle 26 Teile anschauen.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Chillax, Friedrich Merz!

Sie sind Gegner der Cannabislegalisierung, insbesondere sorgen Sie sich um den Kinder- und Jugendschutz. Dennoch gaben Sie zu Protokoll, Sie hätten »einmal während der Schulzeit mal einen Zug dran getan«.

Das sollte Ihnen zu denken geben. Nicht wegen etwaiger Spätfolgen, sondern: Wenn ein Erzkonservativer aus dem Sauerland, der fürs Kiffen die Formulierung »einen Zug dran tun« wählt, schon in der Schulzeit – und trotz sehr wahrscheinlichem Mangel an coolen Freund/innen – an Gras kam, muss dann nicht so ziemlich jedes andere System besseren Jugendschutz garantieren?

Sinniert

Ihre Titanic

 Du, »Hörzu Wissen«,

weißt, wie Werbung geht! Mit »Die Sucht zu töten« machtest Du so richtig Lust auf Deine aktuelle Ausgabe, um erläuternd nachzulegen: »Bestialisch, sadistisch, rätselhaft: Was Menschen zu mordenden Monstern macht – acht Täter und die Geschichten ihrer grausamen Verbrechen.«

Wer kann sich da der Faszination der »dunklen Welt der Serienkiller« noch entziehen? Aber am Ende, liebe Hörzu Wissen, ist in diesem Zusammenhang doch die Implikation Deines Slogans »Hörzu Wissen – das Magazin, das schlauer macht!« das Allergruseligste!

Da erschauert sogar

Die True-Crime-resistente Redaktion der Titanic

 Könnte es sein, »ARD-Deutschlandtrend«,

dass Dein Umfrageergebnis »Mehrheit sieht den Frieden in Europa bedroht« damit zusammenhängt, dass seit über zwei Jahren ein Krieg in Europa stattfindet?

Nur so eine Vermutung von Titanic

 Warum, Internet?

Täglich ermöglichst Du Meldungen wie diese: »›Problematisch‹: Autofahrern droht Spritpreis-Hammer – ADAC beobachtet Teuer-Trend« (infranken.de).

Warum greifst Du da nicht ein? Du kennst doch jene Unsichtbar-Hand, die alles zum Kapitalismus-Besten regelt? Du weißt doch selbst davon zu berichten, dass Millionen Auto-Süchtige mit Dauer-Brummbrumm in ihren Monster-Karren Städte und Länder terrorisieren und zum Klima-Garaus beitragen? Und eine Lobby-Organisation für Immer-Mehr-Verbrauch Höher-Preise erst verursacht?

Wo genau ist eigentlich das Verständlich-Problem?

Rätselt Deine alte Skeptisch-Tante Titanic

 Hä, »Spiegel«?

»Aber gesund machen wird diese Legalisierung niemanden!« schreibst Du in einem Kommentar zum neuen Cannabisgesetz. »Ach, echt nicht?« fragen wir uns da verblüfft. Wir waren bisher fest vom Gegenteil überzeugt. Immerhin haben Kiffer/innen oft sehr gute feinmotorische Fähigkeiten, einen gesunden Appetit und ärgern sich selten. Hinzu kommen die unzähligen Reggaesongs, in denen das Kiffgras als »Healing of the Nation« bezeichnet wird. All dies willst Du nun tatsächlich infrage stellen? Da lieber noch mal ganz in Ruhe drüber nachdenken!

Empfehlen Deine Blättchenfreund/innen von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 In Würde altern

Früher hätte mich der riesige Pickel mitten auf meinem Hals stark gestört. Heute trage ich den wohl niedlichsten ausgeprägten Adamsapfel, den die Welt je gesehen hat, mit großem Stolz ein paar Tage vor mir her.

Ronnie Zumbühl

 Finanz-Blues

Wenn ich bei meiner langjährigen Hausbank anrufe, meldet sich immer und ausnahmslos eine Raiffeisenstimme.

Theobald Fuchs

 Tödliche Pilzgerichte (1/1)

Gefühlte Champignons.

Lukas Haberland

 Mitgehört im Zug

»Prostitution ist das älteste Gewerbe der Welt!« – »Ja, aber das muss es ja nicht bleiben.«

Karl Franz

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
05.05.2024 Bonn, Rheinbühne Thomas Gsella
05.05.2024 Magdeburg, Factory Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
06.05.2024 Hannover, Pavillon Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
06.05.2024 Hamburg, Centralkomitee Ella Carina Werner