Humorkritik | September 2020
September 2020
Es gibt eine Art ernsthafter Leute, welche es überhaupt zur Sünde machen will, wenn man schertzet und lachet.
Georg Friedrich Meier

Interesseloses Wohlgefallen
Wie wär’ das schön, wären Bücher immer so, wie das Feuilleton sie anzeigt: »radikal wie ein Punk-Song« (»Die Zeit«), »direkt und roh, schmerzensvoll wie ein Rocksong« (»Der Standard«), »ein rasantes, amoralisches Miststück von Buch« (»Süddeutsche Zeitung«), »eine magische, soghafte Geschichte, brillant übersetzt von Clemens J. Setz« (»Kleine Zeitung«), »extrem lässig, die Pointen sitzen« (SRF), und »was da so tragisch rumort, wird gleich herzzerreißend komisch« (Spiegel.de).
Meine Erfahrung ist ja, dass Bücher oft das genaue Gegenteil dessen sind, was die Beauftragten in ihnen sehen, wie der Roman »Sarah« des US-Amerikaners Scott McClanahan, auf deutsch erschienen bei Ars Vivendi, nicht roh noch radikal noch wenigstens rasant ist, sondern eine stabile Geschichte über eine am Alkohol scheiternde Ehe im armen West Virginia durch Verlorenheitsprosa und Kalenderblattkitsch verdirbt: »Sarah lächelte. Sie wusste, die Welt war ein riesiges Krankenhaus, in dem wir alle gefangen waren. Und sie dachte über all die unsichtbaren Dinge nach. Sie dachte an die Erdanziehung und den Wind, und sie dachte an das unsichtbarste Ding von allen«, denn das ist eine Himmelsmacht. »Also Schmerzen hatte sie. Trifft das nicht auf uns alle zu?« Auf manche freilich besonders: »Er lächelte zwar, aber seine Augen waren traurig. Er sah aus, als wüsste er, dass wir nur in den Geschichten anderer existieren und dass wir alle die brutalen Zureiter von Pferden sind. Und vielleicht noch andere Dinge«, nämlich die Esser von Cheeseburgern. »So weit die langweilige Geschichte über meinen Tag im Einkaufszentrum und über meinen Cheeseburger und wie sich mein ganzes Leben verändert hat, weil ich den Cheeseburger bestellt habe. Damals wusste ich das noch nicht, aber die Geschichte unseres Lebens ist die Geschichte unserer Cheeseburgerbestellungen.«
Mit dem Erzähler roh zu seufzen: »Es war alles ein Klischee. So wie unser Leben.« Bzw.: »Es war scheißlangweilig. So wie unser Leben«, und dass sich da die Literaturabteilung wiederfindet, versteh’ ich sogar, so wie ich verstehe, dass sie immer alles in Schubladen haben müssen und einen nichts weniger als amoralischen Text, der nicht nur mit eingestreuten Kinderfotos (!) auf mütterliche statt rebellische Instinkte spekuliert, bloß deshalb radikal und roh finden, weil einer säuft. Und weil er scheitert, scheitert er tragisch, und tragisch, das ist halt tragikomisch, und schon finden sie’s zum Lachen, auch wenn die Pointen zu genau zwischen Fast-Food-Existenzialismus und Poesiealbum sitzen, um lustig oder auch nur lässig zu sein. Ja: Sie sind nicht lustig, weil sie nicht lässig sind, und dass Clemens J. Setz »den Ton genau trifft« (SRF), mag stimmen, denn lässig oder roh ist Setz ja nun auch nicht unbedingt.
»Ich wusste, dass sich ohnehin kein Mensch für irgendwas interessierte.« Da mag der Erzähler, was die literaturkritischen Menschen betrifft, sogar recht haben, und ob er mir ohne ihre Hymnen vorn im Buch vielleicht als freundlicher Tor eingeleuchtet hätte (»Ich weiß nur eine Sache übers Leben. Wenn du lang genug lebst, fängst du an, Dinge zu verlieren«), werd’ ich in diesem Leben nicht mehr wissen.