Humorkritik | Juni 2017

Juni 2017

Über einen Witz lachen, den man gar nicht lustig findet, ist wie einen Orgasmus zu simulieren, aber ungleich riskanter. Denn das falsche Lachen hat meist zur Folge, daß gleich noch einer nachgeschoben wird.
Martin Knepper, Facebook

Urteile über Karl Kraus

Er müsse doch, schrieb Karl Kraus 1928 in der »Fackel«, »eine gewisse Ähnlichkeit« mit seinem eigenen Monument haben, »das seit undenklichen Zeiten mit steinerner Gelassenheit allerlei Notdurft und Exhibitionismus über sich ergehen läßt, aber noch die lebendige Kraft hat, die an ihm vermerkten Pissoirinschriften zu fixieren, damit sie nur ja alle Vorbeigehenden lesen können. Ich habe die Empfindung, daß das zum Monument gehört und erst in gegenseitiger Verewigung das wahre Bild zustandekommt, das die Nachwelt von dieser geistigen Gegenwart empfängt.« Dennoch hat Kraus bei weitem nicht alles fixiert bzw. nachgedruckt, was über ihn geschrieben worden ist. Viele Lücken schließt erst der 800 Seiten starke, von 1892 bis 1945 reichende Band, den Dietmar Goltschnigg im Erich Schmidt Verlag herausgegeben hat: »Karl Kraus im Urteil literarischer und publizistischer Kritik«. Darin ist mehr oder weniger alles enthalten, was in jenen Jahren für oder gegen den Polemiker, Satiriker und Kulturkritiker Kraus vorgebracht worden ist.

Kurioserweise schließen die schärfsten Kritikpunkte einander aus: Man sagte ihm sowohl Eitelkeit als auch Selbsthaß nach, also ein Laster und eine Krankheit, die sich innerhalb eines Menschenwesens gegenseitig arg im Wege stehen müßten, und man warf ihm vor, daß die Objekte seiner Polemik zu groß und zu klein seien: »So gleicht Kraus dem Knaben, der eine Festungsmauer mit Knallerbsen beschießt«, schrieb Max Brod 1911, wohingegen Theodor Reik 1912 meinte: »Niemals bisher wurden mit einem größeren Triumphgeschrei offenere Türen eingerannt.« Bemerkenswert ist auch das Behagen, mit dem seine Kritiker sich immer wieder darauf beriefen, daß er an einer Rückgratverkrümmung leide und mehrmals geohrfeigt und verprügelt worden sei. Und während die einen sich über die Folgenlosigkeit seiner literarischen Arbeit mokierten, stellten andere betrübt fest, »daß er berserkerhaft durch die Literaturgefilde stampfte und dabei schonungslos duftige Blüten und Keime zerstampfte«. Ja, was denn nun?

Auch Verehrer zitiert Goltschnigg: »Kraus ist Glühen, ist eine Flamme«, schwärmte der Philosoph Carl Dallago 1912, und der Philologe Jonas Lesser rief ihm nach: »Du gingst von uns, wir bleiben hier verwaist, / Und dreimal dunkler ist uns jetzt die Welt, / Weil sie nicht mehr durchpulst dein starker Geist, / Weil deine Seele sie nicht mehr erhellt.« Doch die Anbetung, die Kraus mitunter zuteil wurde, konnte auch in offenen Haß umschlagen. Exemplarisch Franz Werfel: Er sehe sich außerstande, etwas über Kraus zu äußern, erklärte er noch 1913, »denn hinter allem Essayistischen, das ich über Karl Kraus schreiben könnte, stünde gebieterisch und unverrückbar die Stunde, die meinen Planeten an den seinen bindet.« Sieben Jahre später war Kraus in Werfels Augen bloß noch »ein spaßiger Denunziant und Fürzefänger«.

»Von der Geteiltheit, deren die Meinungen über mich fähig sind, könnte ein neuer Leser Kopfschmerzen bekommen«, hatte Kraus bereits 1911 konstatiert. Theodor Reik war überzeugt davon, daß man von Kraus schon bald nicht mehr reden werde (»Der starke Gehalt Schnitzlerischer Werke wird leben, wenn von Kraus der Urenkel des Piccolo vom Café X. einiges Überlieferte weiß«), während Walter Serner zu einer ganz anderen Einschätzung gelangte: »In hundert Jahren wird man ihn in billigen Volksausgaben lesen und die spärliche Bewunderung seiner Zeit für ihn nachsichtig belächeln.« Damit sollte Serner nur teilweise recht behalten – Kraus wird zwar bis heute gelesen, aber auch achtzig Jahre nach seinem Tod ist er noch immer umstritten. Auf den zweiten, für Juni 2017 angekündigten Band – 1945 bis Gegenwart – darf man gespannt sein. Ich freue mich schon auf die Wiederbegegnung mit den Fehlurteilen von Raddatz-Ranicki u.a.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Waidmannsheil, »Spiegel«!

»Europas verzweifelte Jagd nach Munition«, titeltest Du, und doch könnte es deutlich schlimmer sein. Jagd auf Munition – das wäre, so ganz ohne diese Munition, deutlich schwieriger!

Nimmt Dich gerne aufs Korn: Titanic

 Du, »Deutsche Welle«,

betiteltest einen Beitrag mit den Worten: »Europäer arbeiten immer weniger – muss das sein?« Nun, wir haben es uns wirklich nicht leicht gemacht, ewig und drei Tage überlegt, langjährige Vertraute um Rat gebeten und nach einem durchgearbeiteten Wochenende schließlich die einzig plausible Antwort gefunden. Sie lautet: ja.

Dass Du jetzt bitte nicht zu enttäuscht bist, hoffen die Workaholics auf

Deiner Titanic

 Apropos: ¡Hola bzw. holla, spanischer Priester!

Du hast Dir die Worte aus dem Matthäusevangelium »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« zu sehr zu Herzen genommen und in Deiner Gemeinde in der Kleinstadt Don Benito einen regen Handel mit Potenzmitteln betrieben. Für diesen nach weltlichem Ermessen offensichtlichen Sündenfall musst Du Dich nun vor einem irdischen Gericht verantworten.

Uns ist zwar nicht bekannt, ob Du Dich gegenüber Polizei und Justiz bereits bußfertig gegeben hast oder weiterhin auf das Beichtgeheimnis berufst. Angesichts der laut Zeugenaussagen freudigen Erregung Deiner überalterten Gemeindemitglieder beim Geläut der Glocken sowie ihres Durchhaltevermögens bei den nicht enden wollenden Eucharistiefeiern inklusive Rumgeorgel, Stoßgebeten und orgiastischer Gottesanrufungen sprechen alle Indizien aber ohnehin gegen Dich!

Bleibt auch ganz ohne künstliche Stimulanzien weiter standfest im Nichtglauben: Titanic

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

 Lustiger Zufall, »Tagesspiegel«!

»Bett, Bücher, Bargeld – wie es in der Kreuzberger Wohnung von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette aussah«. Mit dieser Schlagzeile überschreibst Du Deine Homestory aus Berlin. Ha, exakt so sieht es in unseren Wohnungen auch aus! Komm doch gern mal vorbei und schreib drüber. Aber bitte nicht vorher die Polizei vorbeischicken!

Dankend: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt
08.04.2024 Oldenburg, Theater Laboratorium Bernd Eilert mit Klaus Modick