Humorkritik | November 2009

November 2009

Prophet und Richter

Schon einmal ist er in TITANIC als »illuminierter Kopf« gewürdigt worden, von Robert Gernhardt in einer Polemik über »publizistische Penner« und »satirische Seher«, einen Monat nach dem Fall der Mauer. Die Rede ist von Eugen Richter, freidemokratischer Politiker im Kaiserreich und Oppositionsführer im Reichstag, Gelegenheitssatiriker und Gegner sowohl Bismarcks als auch Bebels. 1891 verfasste er einen satirischen Kurzroman, der das Scheitern des Sozialismus wenn nicht als »Hoffnung der Menschheit« (Rudi Dutschke), so doch als Großexperiment vorhersagte. Und zwar verblüffend präzise.

 

»Sozialdemokratische Zukunftsbilder – frei nach Bebel« hieß Richter sein prognostisches Wunderwerk, erzählt von einem fiktiven Buchbindermeister. (Um Mißverständnisse bei Nachwuchslesern zu vermeiden: »Sozialdemokraten« nannten sich seinerzeit die noch in einer Partei vereinigten, später dann in »Sozis« und »Kommunisten« aufgeteilten Sozialisten.) Richters Erzähler, der irgendwie aus der DDR ins 19. Jahrhundert zurückgekehrt sein muß, hat nicht nur den 17. Juni und den Schießbefehl erlebt, sondern auch Sättigungsbeilagen verzehrt und als erster den Ruf »Wir sind das Volk!« protokolliert. Doch der Reihe nach.

 

Am Beginn der Handlung steht die sozialistische Siegesfeier: »Die rote Fahne der internationalen Sozialdemokratie weht vom Königsschloß und allen öffentlichen Gebäuden Berlins.« August Bebel, der im Roman schon tot ist, bekommt gleich sein Fett weg: »Wenn solches unser verewigter Bebel noch erlebt hätte! Hat er uns doch immer vorausgesagt, daß die ›Katastrophe schon vor der Tür steht‹.« Eine hübsch sarkastische Umkehrung der notorischen Untergangsrhetorik Bebels.

 

Sodann nimmt die »Katastrophe« Kapitel für Kapitel ihren realsozialistischen Lauf: Die Pressefreiheit wird abgeschafft, Hausfrauen gehen in die Produktion, die Blagen in die Krippen: »Alle Kinder werden in Kinderpflegeanstalten und Erziehungshäusern des Staates untergebracht.« Modische, gut verarbeitete Kleidung ist entbehrlich, Bohnenkaffee wird zur Bückware (»infolge der auswärtigen Verwicklungen soll jetzt fast nur Cichorienkaffee [vulgo Muckefuck] verabfolgt werden«) und Einkaufen wird zum Behördengang: »Die vom Staat angestellten Verkäufer sind so kurz angebunden wie die Beamten am Eisenbahnschalter.«

 

Das Versorgungsgefälle zwischen Hauptstadt und Provinz nimmt zu, die innerstaatliche Freizügigkeit nimmt ab und wird als »Eisenbahnvagabondage« verboten, und als der Staat sich der privaten Sparbücher bemächtigt, rufen die aufgebrachten Enteigneten nicht nur in der Volkskammer, pardon, im Reichstag mahnend »Wir sind das Volk!«, sondern beginnen damit, sich ins kapitalistische Ausland abzusetzen.

 

Die Regierung reagiert auf die Republikflucht mit dem »Gesetz gegen die unerlaubte Auswanderung«: »Personen, die ihre Erziehung und Bildung dem Staat verdanken, kann die Auswanderung nicht gestattet werden, solange sie noch im arbeitspflichtigen Alter stehen.« Die Konsequenz war 1949ff. im Westfernsehen zu betrachten: »In der ersten Zeit der neuen Ordnung waren es fast nur die Rentner, welche über die Grenze gingen.«

 

Es folgen, im Roman wie in der DDR, die Künstler und Schriftsteller, deren Abwanderung allerdings »noch zu verschmerzen« war: »Die Herren Schriftsteller, welche alles bekritteln und berufsmäßig Unruhe im Volke verbreiten, sind für ein auf dem Willen der Volksmehrheit beruhendes Staatswesen völlig entbehrlich.«

 

Der vorweggenommene Sozialismus reagiert auf die Emigration nicht anders als der reale. Das Auswanderungsverbot wird »mit Strenge gehandhabt«: »Dazu ist eine scharfe Besetzung der Grenzen erforderlich. Die Grenzposten sind angewiesen, von der Schußwaffe rücksichtslos Gebrauch zu machen.«

 

Die Vorhersage von Rübermachen und Schießbefehl ist zweifellos die beeindruckendste prognostische Leistung Eugen Richters. Enden läßt er seine »Zukunftsbilder« mit einem Aufstand der Berliner Metallarbeiter, dem 17. Juni mithin, der allerdings nicht von den Russen niedergeschlagen wird, sondern in »Anarchie und vollständige Auflösung« des Arbeiter- und Bauernstaats mündet.

 

Nur die Mauer selbst hatte Richter nicht kommen sehen. Was allerdings damit zu entschuldigen ist, daß er von einem einigen Bebelschen Deutschland ausging, mit ungeteilter Hauptstadt. Man soll von Satirikern halt nicht alles erwarten.

 

Richters Büchlein erfreut sich übrigens, neben der Übersetzung in zwölf Sprachen, seit 2007 einer Neuausgabe.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Eher unglaubwürdig, »dpa«,

erschien uns zunächst Deine Meldung, Volker Wissing habe nach dem tödlichen Busunglück auf der A9 bei Leipzig »den Opfern und Hinterbliebenen sein Beileid ausgesprochen«. Andererseits: Wer könnte die Verstorbenen auf ihrem Weg ins Jenseits noch erreichen, wenn nicht der Bundesverkehrsminister?

Tippt aufs Flugtaxi: Titanic

 Chillax, Friedrich Merz!

Sie sind Gegner der Cannabislegalisierung, insbesondere sorgen Sie sich um den Kinder- und Jugendschutz. Dennoch gaben Sie zu Protokoll, Sie hätten »einmal während der Schulzeit mal einen Zug dran getan«.

Das sollte Ihnen zu denken geben. Nicht wegen etwaiger Spätfolgen, sondern: Wenn ein Erzkonservativer aus dem Sauerland, der fürs Kiffen die Formulierung »einen Zug dran tun« wählt, schon in der Schulzeit – und trotz sehr wahrscheinlichem Mangel an coolen Freund/innen – an Gras kam, muss dann nicht so ziemlich jedes andere System besseren Jugendschutz garantieren?

Sinniert

Ihre Titanic

 Hoppla, Berliner Gefängnischefs!

Drei von Euch haben laut Tagesspiegel wegen eines Fehlers der schwarz-roten Regierungskoalition statt einer Gehaltserhöhung weniger Geld bekommen. Aber der Ausbruch von Geldnöten soll durch einen Nachtragshaushalt verhindert werden. Da ja die Freundschaft bekanntlich beim Geld endet: Habt Ihr drei beim Blick auf Eure Kontoauszüge mal kurz über eine Ersatzfreiheitsstrafe für die nachgedacht, die das verbrochen haben?

Wollte diese Idee nur mal in den Raum stellen: Titanic

 Helen Fares, c/o »SWR« (bitte nachsenden)!

Sie waren Moderatorin des Digital-Formats MixTalk und sind es nun nicht mehr, nachdem Sie ein launiges kleines Video veröffentlicht haben, in dem Sie zum Boykott israelischer Produkte aufriefen, mit Hilfe einer eigens dafür programmierten App, die zielsicher anzeigt, wo es in deutschen Supermärkten noch immer verjudet zugeht (Eigenwerbung: »Hier kannst Du sehen, ob das Produkt in Deiner Hand das Töten von Kindern in Palästina unterstützt oder nicht«).

Nach Ihrem Rauswurf verteidigten Sie sich in einem weiteren Video auf Instagram: »Wir sind nicht antisemitisch, weil wir es boykottieren, Produkte von Unternehmen zu kaufen, die Israel unterstützen. Ein Land, das sich vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Genozid verantworten muss, weil es Zehntausende von Menschen abgeschlachtet hat.« Da sich aber auch Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Beihilfe zum Genozid verantworten muss, war Ihre Kündigung beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk ja ohnehin einvernehmlich, oder?

Kann es sich nicht anders vorstellen: Titanic

 Verehrte Joyce Carol Oates,

da Sie seit den Sechzigern beinah im Jahrestakt neue Bücher veröffentlichen, die auch noch in zahlreiche Sprachen übersetzt werden, kommen Sie vermutlich nicht dazu, jeden Verlagstext persönlich abzusegnen. Vielleicht können Sie uns dennoch mit ein paar Deutungsangeboten aushelfen, denn uns will ums Verrecken nicht einfallen, was der deutsche Ecco-Verlag im Sinn hatte, als er Ihren neuen Roman wie folgt bewarb: »›Babysitter‹ ist ein niederschmetternd beeindruckendes Buch, ein schonungsloses Porträt des Amerikas der oberen Mittelschicht sowie ein entlarvender Blick auf die etablierten Rollen der Frau. Oates gelingt es, all dies zu einem unglaublichen Pageturner zu formen. In den späten 1970ern treffen in Detroit und seinen Vorstädten verschiedene Leben aufeinander«, darunter »eine rätselhafte Figur an der Peripherie der Elite Detroits, der bisher jeglicher Vergeltung entkam«.

Bitte helfen Sie uns, Joyce Carol Oates – wer genau ist ›der Figur‹, dem es die elitären Peripherien angetan haben? Tragen die Leben beim Aufeinandertreffen Helme? Wie müssen wir uns ein Porträt vorstellen, das zugleich ein Blick ist? Wird das wehtun, wenn uns Ihr Buch erst niederschmettert, um dann noch Eindrücke auf uns zu hinterlassen? Und wie ist es Ihnen gelungen, aus dem unappetitlich plattgedrückten Matsch zu guter Letzt noch einen »Pageturner« zu formen?

Wartet lieber aufs nächste Buch: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 Nicht lustig, bloß komisch

Während ich früher schon ein kleines bisschen stolz darauf war, aus einer Nation zu stammen, die mit Loriot und Heinz Erhardt wahre Zen-Meister der Selbstironie hervorgebracht hat, hinterfrage ich meine humoristische Herkunft aufgrund diverser Alltagserfahrungen jetzt immer öfter mit Gedanken wie diesem: Möchte ich den Rest meines Lebens wirklich in einem Land verbringen, in dem man während seiner Mittagspause in ein Café geht, das vor der Tür vollmundig mit »leckerem Hunde-Eis« wirbt, und auf seine Bestellung »Zwei Kugeln Labrador und eine Kugel Schnauzer« statt des fest eingeplanten Lachers ein »RAUS HIER!« entgegengebrüllt bekommt?

Patric Hemgesberg

 Tödliche Pilzgerichte (1/1)

Gefühlte Champignons.

Lukas Haberland

 Gebt ihnen einen Lebenszyklus!

Künstliche Pflanzen täuschen mir immer gekonnter Natürlichkeit vor. Was ihnen da aber noch fehlt, ist die Fähigkeit zu verwelken. Mein Vorschlag: Plastikpflanzen in verschiedenen Welkstadien, damit man sich das Naserümpfen der Gäste erspart und weiterhin nur dafür belächelt wird, dass man alle seine Zöglinge sterben lässt.

Michael Höfler

 Vom Feeling her

Es hat keinen Sinn, vor seinen Gefühlen wegzulaufen. Man muss sich schon auch mal hinter einem Baum verstecken und warten, dass die das nicht merken und an einem vorbeiziehen, sonst bringt das ja alles nichts.

Loreen Bauer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
07.05.2024 Köln, Stadthalle Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
07.05.2024 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview« mit Kathrin Hartmann
08.05.2024 Wiesbaden, Schlachthof Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
09.05.2024 Zürich, Friedhof Forum Thomas Gsella