Humorkritik | Juni 2009

Juni 2009

Herrlicher Kopf

Aus unerfindlichen Gründen erfreut(e) sich bei Lehrenden der deutschsprachigen Literatur das »bürgerliche Trauerspiel« einer grandiosen Beliebtheit als Unterrichts- und vor allem Prüfungsthema. In den fragwürdigen Genuß dieses Curriculum-Knallers zu kommen heißt unweigerlich, »Maria Magdalena« von Friedrich Hebbel (1813–1863) lesen zu müssen und fortan verloren zu sein für a) – was nicht schlimm ist – das bürgerliche Trauerspiel und b) für Hebbel – was nun wirklich sehr schade ist. Denn Hebbel ist weit mehr und besser als der Trauerspiel-Verfasser. Sein schönstes, prächtigstes, sein Hauptwerk, nämlich die umfangreichen Tagebücher, ist kaum bekannt.

 

Der Pianist Alfred Brendel hat jetzt dankenswerterweise aus den 6347 Tagebucheinträgen eine feine Auswahl zusammengestellt, der man höchstens den nicht eben zu Kauf und Lektüre animierenden Titel »Weltgericht mit Pausen« (Hanser) vorwerfen, in der man aber nach Herzenslust schmökern kann und sollte. Man meint, von einem Déjà-vu zum nächsten zu blättern und etwa zu lesen: Lichtenberg (»Beim Beten und Rasieren macht der Mensch ein gleich andächtiges Gesicht«), Tucholsky (»Es ist am Ende an der Religion das Beste, daß sie Ketzer hervorruft«), Ramón Gómez de la Serna (»Der Tannzapfen ist die Karikatur der Ananas«), Schopenhauer (»Der Jüngling fordert vom Tag, daß er etwas bringt, der Mann ist zufrieden, wenn er nur nichts nimmt«), Karl Kraus (»Das Weib und der Mann in ihrem reinen Verhältnis zueinander; jenes diesen vernichtend«). Und von mir aus sogar Nietzsche, »Kafka und Canetti« (Brendel). Und doch liest man immer den angeblich so depressiven, aus Wesselburen (zur Zeit Schleswig-Holstein) in die Welt geworfenen und nach nur fünfzig Jahren aus und von ihr geschiedenen Tragöden.

 

Doch ist zumindest der Tabu-Schreiber ein schwarzhumoriger, dem Absurden, Grotesken und auch dem so albernen wie rätselhaften Unfug gewogener Geist: »Heute trat ich E. auf den Fuß und bat P. um Verzeihung.« Und all das in durchaus bewußter Lichtenberg-Tradition: »Ich habe in letzter Zeit viel von Jean Paul gelesen und einiges von Lichtenberg. Welch ein herrlicher Kopf ist der Letztere! Ich will lieber mit Lichtenberg vergessen werden, als unsterblich sein mit Jean Paul!«

 

Wobei das mit der Unsterblichkeit so eine Sache ist, kann man doch auf unterschiedliche und mitunter »wunderliche Weise fortleben. So lebt Joh. Fr. Martens aus Wesselburen durch sein Niesen, das ich mir angeeignet habe, weil ich es anfangs aus Spott nachahmte, in mir fort, obgleich er längst begraben ist.« Um das Fortleben des Hebbelschen Werkes, das wir uns aneignen und genießen sollten, hat sich Herr Brendel verdient gemacht. Und ich mich durch diese Humorkritik freilich auch.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hoppla, Berliner Gefängnischefs!

Drei von Euch haben laut Tagesspiegel wegen eines Fehlers der schwarz-roten Regierungskoalition statt einer Gehaltserhöhung weniger Geld bekommen. Aber der Ausbruch von Geldnöten soll durch einen Nachtragshaushalt verhindert werden. Da ja die Freundschaft bekanntlich beim Geld endet: Habt Ihr drei beim Blick auf Eure Kontoauszüge mal kurz über eine Ersatzfreiheitsstrafe für die nachgedacht, die das verbrochen haben?

Wollte diese Idee nur mal in den Raum stellen: Titanic

 Hallihallo, Michael Maar!

In unserem Märzheft 2010 mahnte ein »Brief an die Leser«: »Spannend ist ein Krimi oder ein Sportwettkampf.« Alles andere sei eben nicht »spannend«, der schlimmen dummen Sprachpraxis zum Trotz.

Der Literatur- ist ja immer auch Sprachkritiker, und 14 Jahre später haben Sie im SZ-Feuilleton eine »Warnung vor dem S-Wort« veröffentlicht und per Gastbeitrag »zur inflationären Verwendung eines Wörtchens« Stellung bezogen: »Nein, liebe Radiosprecher und Moderatorinnen. Es ist nicht S, wenn eine Regisseurin ein Bachmann-Stück mit drei Schauspielerinnen besetzt. Eine Diskussionsrunde über postmoderne Lyrik ist nicht S. Ein neu eingespieltes Oboenkonzert aus dem Barock ist nicht S.«

Super-S wird dagegen Ihr nächster fresher Beitrag im Jahr 2038: Das M-Wort ist ja man auch ganz schön dumm!

Massiv grüßt Sie Titanic

 Hä, »Spiegel«?

»Aber gesund machen wird diese Legalisierung niemanden!« schreibst Du in einem Kommentar zum neuen Cannabisgesetz. »Ach, echt nicht?« fragen wir uns da verblüfft. Wir waren bisher fest vom Gegenteil überzeugt. Immerhin haben Kiffer/innen oft sehr gute feinmotorische Fähigkeiten, einen gesunden Appetit und ärgern sich selten. Hinzu kommen die unzähligen Reggaesongs, in denen das Kiffgras als »Healing of the Nation« bezeichnet wird. All dies willst Du nun tatsächlich infrage stellen? Da lieber noch mal ganz in Ruhe drüber nachdenken!

Empfehlen Deine Blättchenfreund/innen von Titanic

 Rrrrr, Jesus von Nazareth!

Rrrrr, Jesus von Nazareth!

Im andalusischen Sevilla hast Du eine Kontroverse ausgelöst, der Grund: Auf dem Plakat für das Spektakel »Semana Santa« (Karwoche) habest Du zu freizügig ausgesehen, zu erotisch, ja zu hot!

Tja, und wie wir das besagte Motiv anschauen, verschlägt es uns glatt die Sprache. Dieser sehnsüchtige Blick, der kaum bedeckte anmutige Körper! Da können wir nur flehentlich bitten: Jesus, führe uns nicht in Versuchung!

Deine Dir nur schwer widerstehenden Ungläubigen von der Titanic

 Grüß Gott, Businesspäpstin Diana zur Löwen!

Du verkaufst seit Neuestem einen »Anxiety Ring«, dessen »bewegliche Perlen« beim Stressabbau helfen sollen. Mal abgesehen davon, dass das einfach nur das hundertste Fummelspielzeug ist, kommen uns von ihren Nutzer/innen glorifizierte und zur Seelenerleichterung eingesetzte bewegliche Perlen an einer Kette verdächtig bekannt vor.

Ist für Dich natürlich super, denn auch wenn Du Deinen treuen Fans skrupellos das Geld aus der Tasche ziehst, in die Hölle kommst Du zumindest für diese Aktion sicher nicht.

Auch wenn dafür betet:

Deine Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Gute Nachricht:

Letzte Woche in der Therapie einen riesigen Durchbruch gehabt. Schlechte Nachricht: Blinddarm.

Laura Brinkmann

 Die wahre Strafe

Verhaftet zu werden und in der Folge einen Telefonanruf tätigen zu müssen.

Fabio Kühnemuth

 Back to Metal

Wer billig kauft, kauft dreimal: Gerade ist mir beim zweiten Sparschäler innerhalb von 14 Tagen die bewegliche Klinge aus ihrer Plastikaufhängung gebrochen. Wer Sparschäler aus Kunststoff kauft, spart also am falschen Ende, nämlich am oberen!

Mark-Stefan Tietze

 Finanz-Blues

Wenn ich bei meiner langjährigen Hausbank anrufe, meldet sich immer und ausnahmslos eine Raiffeisenstimme.

Theobald Fuchs

 Spielregeln

Am Ende einer Mensch-ärgere-dich-nicht-Partie fragt der demente Herr, ob er erst eine Sechs würfeln muss, wenn er zum Klo will.

Miriam Wurster

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
06.05.2024 Hannover, Pavillon Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
06.05.2024 Hamburg, Centralkomitee Ella Carina Werner
07.05.2024 Köln, Stadthalle Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
07.05.2024 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview« mit Kathrin Hartmann