Humorkritik | August 2009

August 2009

Schulmeister Schramm

Den Kabarettisten Georg Schramm, den ich bislang nur im Fernseh hatte erleben können und dessen vergleichsweise unkabarettistischer, ganz eigentlicher Furor mir angenehm aufgefallen war, habe ich an dieser Stelle bereits gelobt (TITANIC 5/2007). Sein wunderhübsch benamstes Programm »Thomas Bernhard hätte geschossen« habe ich jetzt, mit der gebotenen Verspätung, live gesehen.

Zuerst einmal sind zweieinhalb Stunden netto nicht wenig, wenn es pausenlos und ganz direkt Kritik hagelt: am Gesundheitswesen bzw. dem Pharmakartell (Schramm ist gelernter Psychologe und kennt sich aus), am Freiheitskrieg der Bundeswehr im afghanischen Ausland, an der akuten Finanzkrise wie der generellen Erniedrigung des Menschen zum Kosten-Nutzen-Faktor. Schramm schimpft, brüllt, spuckt (jawohl!), Pardon gibt er nicht, den gibt der Gegner ja auch nicht, und nach den ersten neunzig Minuten war ich bereits gut bedient, doch dann ging’s noch mal weiter, und am Schluß feierte ihn das aus Krawattenträgern und Jack-Wolfskin-Fünfzigern gut gemischte Mittelstandspublikum mit minutenlangen Ovationen.

Das nun fand ich faszinierend bis unheimlich. Es waren und sind dies doch sichtlich dieselben Leute, die im September brav die demokratische Mitte wählen; es waren und sind dies die treuen Leser von Spiegel, Stern, Süddeutscher und sogar FAZ, die zu mind. 98 Prozent nichts gegen deren staatstragende Meinungen haben (nach einem Interview in der Online-SZ barst der Kommentarbereich vor Lob: »Schramm for Chancellor!«); es sind dies die Leute, die den Laden am Laufen halten, nicht immer klaglos, aber treu. Diesen Leuten reibt nun einer hin, daß sie integraler Teil eines Saustalls aus Korruption, Ausbeutung und Infamie sind, und die lachen sich, von zweidrei Betretenheiten abgesehen, über ihr Unheil erst schlapp und gehen dann zufrieden nach Hause, ganz wie beim regulären Richling-Kabarett, das durch seine harmlosen, pseudopolitischen Kasperliaden ja nicht Differenz, sondern Einklang produziert: »die eigene Meinung in der durch den Apparat autorisierten Version« (Wolfgang Pohrt).

Dazu kommt, daß die meisten Leute nun mal weder Pharmareferenten noch Bundeswehroffiziere noch Finanzdienstleister sind: Nicht nur Schramms Bühnenfigur Oberstleutnant Sanftleben weiß, was ein Feindbild ist, und das Gelächter ist dann am größten, als Schramm einen Tisch mit Managereseln herunterputzt; was die, nach einer Schrecksekunde, aber auch noch prima lustig finden – Schramm, der Wüterich, Berserker und Scharfrichter, also auch nur ein Apparatschik wie alle anderen?

Ganz so schlimm ist es dann doch nicht. Wenn sein Witz die Grenzen des Genres auch nie verläßt, so hat man Schramms Meinungen wenigstens nicht immer schon tausendmal gehört. Es ist sicher sinnvoll, ihn weniger als Komiker denn als kabarettistischen Volkstribun zu führen, der ausspricht, was alle bis eben noch nicht gedacht haben, als einen satirischen »Schulmeister« (Kästner, der aber viel versöhnlicher war); und an politischem Aufklärungsunterricht mangelt es diesem verhetzten Land ja erheblich. Und daß die kathartische, nämlich humoristische Wirkung von Komik auch dort für Lacher sorgt, wo Entsetzen angebracht wäre, und für Feierabendzufriedenheit, wo’s nach Knüppel aus dem Sack ruft, ist eine Aporie, für die Schramm nichts kann.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Wurde aber auch Zeit, Niedersächsische Wach- und Schließgesellschaft!

Mit Freude haben wir die Aufschrift »Mobile Streife« auf einem Deiner Fahrzeuge gesehen und begrüßen sehr, dass endlich mal ein Sicherheitsunternehmen so was anbietet! Deine Mitarbeiter/innen sind also mobil. Sie sind unterwegs, auf Achse, auf – um es einmal ganz deutlich zu sagen – Streife, während alle anderen Streifen faul hinterm Büroschreibtisch oder gar im Homeoffice sitzen.

An wen sollten wir uns bisher wenden, wenn wir beispielsweise einen Einbruch beobachtet haben? Streifenpolizist/innen? Hocken immer nur auf der Wache rum. Streifenhörnchen? Nicht zuständig und außerdem eher in Nordamerika heimisch. Ein Glück also, dass Du jetzt endlich da bist!

Freuen sich schon auf weitere Services wie »Nähende Schneiderei«, »Reparierende Werkstatt« oder »Schleimige Werbeagentur«:

Deine besserwisserischen Streifbandzeitungscracks von Titanic

 Mahlzeit, Erling Haaland!

Mahlzeit, Erling Haaland!

Zur Fußballeuropameisterschaft der Herren machte erneut die Schlagzeile die Runde, dass Sie Ihren sportlichen Erfolg Ihrer Ernährung verdankten, die vor allem aus Kuhherzen und -lebern und einem »Getränk aus Milch, Grünkohl und Spinat« besteht.

»Würg!« mögen die meisten denken, wenn sie das hören. Doch kann ein Fußballer von Weltrang wie Sie sich gewiss einen persönlichen Spitzenkoch leisten, der die nötige Variation in den Speiseplan bringt: morgens Porridge aus Baby-Kuhherzen in Grünkohl-Spinat-Milch, mittags Burger aus einem Kuhleber-Patty und zwei Kuhherzenhälften und Spinat-Grünkohl-Eiscreme zum Nachtisch, abends Eintopf aus Kuhherzen, Kuhleber, Spi… na ja, Sie wissen schon!

Bon appétit wünscht Titanic

 Cafe Extrablatt (Bockenheimer Warte, Frankfurt)!

»… von früh bis Bier!« bewirbst Du auf zwei großflächigen Fassadentafeln einen Besuch in Deinen nahe unserer Redaktion gelegenen Gasträumlichkeiten. Geöffnet hast Du unter der Woche zwischen 8:00 und 0:00 bzw. 01:00 (freitags) Uhr. Bier allerdings wird – so interpretieren wir Deinen Slogan – bei Dir erst spät, äh, was denn überhaupt: angeboten, ausgeschenkt? Und was verstehst Du eigentlich unter spät? Spät in der Nacht, spät am Abend, am Spätnachmittag oder spätmorgens? Müssen wir bei Dir in der Früh (zur Frühschicht, am frühen Mittag, vor vier?) gar auf ein Bier verzichten?

Jetzt können wir in der Redaktion von früh bis Bier an nichts anderes mehr denken. Aber zum Glück gibt es ja die Flaschenpost!

Prost! Titanic

 Wenn, Sepp Müller (CDU),

Bundeskanzler Olaf Scholz, wie Sie ihm vorwerfen, in einem »Paralleluniversum« lebt – wer hat dann seinen Platz in den Bundestagsdebatten, den Haushaltsstreitgesprächen der Ampelkoalition, beim ZDF-Sommerinterview usw. eingenommen?

Fragt die Fringe-Division der Titanic

 »Welt«-Feuilletonist Elmar Krekeler!

»Friede eurer gelben Asche, Minions!« überschrieben Sie Ihre Filmkritik zu »Ich – einfach unverbesserlich 4«. Vorspann: »Früher waren sie fröhliche Anarchisten, heute machen sie öde Werbung für VW: Nach beinahe 15 Jahren im Kino sind die quietschgelben Minions auf den Hund gekommen. Ihr neuestes Kino-Abenteuer kommt wie ein Nachruf daher.«

Starkes Meinungsstück, Krekeler! Genau dafür lesen wir die Welt: dass uns jemand mit klaren Worten vor Augen führt, was in unserer Gesellschaft alles schiefläuft.

Dass Macron am Erstarken der Rechten schuld ist, wussten wir dank Ihrer Zeitung ja schon, ebenso, dass eine Vermögenssteuer ein Irrweg ist, dass man Viktor Orbán eine Chance geben soll, dass die Letzte Generation nichts verstanden hat, dass Steuersenkungen für ausländische Fachkräfte Deutschlands Todesstoß sind und dass wir wegen woker Pronomenpflicht bald alle im Gefängnis landen.

Aber Sie, Elmar Krakeeler, haben endlich den letzten totgeschwiegenen Missstand deutlich angesprochen: Die Minions sind nicht mehr frech genug. O tempora. Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dialog auf Augenhöhe

Zu meinen Aufgaben als Marketingexperte in einem modernen Dienstleistungsunternehmen gehört es unter anderem, unzufriedene Kunden zu beschwichtigen. Vor kurzem beschwerte sich einer von ihnen darüber, dass wir in unseren Texten immer dieselben Bausteine verwenden. Die Mail ließ mich ganz irritiert zurück. Ein Glück, dass wir für genau solche Anfragen gleich fertige Antworten haben.

Andreas Maier

 Ein Lächeln

Angesichts der freundlichen Begrüßung meinerseits und des sich daraus ergebenden netten Plausches mit der Nachbarin stellte diese mir die Frage, welches der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen sei. Sie beantwortete glücklicherweise ihre Frage gleich darauf selbst, denn meine gottlob nicht geäußerte vage Vermutung (Geschlechtsverkehr?) erwies sich als ebenso falsch wie vulgär.

Tom Breitenfeldt

 Reifeprozess

Musste feststellen, dass ich zum einen langsam vergesslich werde und mir zum anderen Gedanken über die Endlichkeit allen Lebens mache. Vor meiner Abreise in den Urlaub vergaß ich zum Beispiel, dass noch Bananen in meiner Obstschale liegen, und dann dachte ich zwei Wochen darüber nach, wie lange es wohl dauert, bis die Nachbarn wegen des Geruchs und der Fliegen aus meiner Wohnung die Kripo alarmieren.

Loreen Bauer

 Unübliche Gentrifizierung

Zu Beginn war ich sehr irritiert, als mich der Vermieter kurz vor meinem Auszug aufforderte, die Bohr- und Dübellöcher in den Wänden auf keinen Fall zu füllen bzw. zu schließen. Erst recht, als er mich zusätzlich darum bat, weitere Löcher zu bohren. Spätestens, als ein paar Tage darauf Handwerkerinnen begannen, kiloweise Holzschnitzel und Tannenzapfen auf meinen Böden zu verteilen, wurde mir jedoch klar: Aus meiner Wohnung wird ein Insektenhotel!

Ronnie Zumbühl

 Liebesgedicht

Du bist das Ästchen,
ich bin der Stamm.
Du bist der Golo,
ich Thomas Mann.
Du bist Borkum,
ich bin Hawaii.
Du bist die Wolke,
ich bin gleich drei.
Du bist das Würmchen,
ich bin das Watt.
Du bist die Klinke,
ich bin die Stadt.
Du bist das Blättchen,
ich jetzt der Ast.
Sei still und freu dich,
dass du mich hast.

Ella Carina Werner

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.08.2024 Kassel, Caricatura-Galerie Miriam Wurster: »Schrei mich bitte nicht so an!«
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst Die Dünen der Dänen – Das Neueste von Hans Traxler
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst »F. W. Bernstein – Postkarten vom ICH«
09.08.2024 Bremen, Logbuch Miriam Wurster