Humorkritik | August 2009

August 2009

Bohème, analog

Der Steidl-Verlag hat Henri Murgers »Bohème« neu aufgelegt, den Prototypen aller Gammlerkünstlerromane – gegenüber der letzten Auflage (vgl. TITANIC 08/2001) leider wieder in keiner bahnbrechenden neuen Übersetzung, aber immerhin taugt’s gerade noch rechtzeitig, um als Argument aufzutreten gegen alles, was sich selbst gern als »digitale Bohème« verstünde. Denn nichts wäre den charmanten Tagedieben aus Murgers 1849 vollendeter Kollektanée komischer Szenen ferner gewesen als die pausenlose Selbstvermarktung, welche diese Ideologen des Freiberuflertums als Unabhängigkeit und Selbständigkeit verbrämen; nichts ferner, als die Heldentat, für einen Telefonanbieter im Fernsehen herumzuhampeln, als Beweis für die Überlegenheit einer irgendwie »vernetzten« Lebensform zu erklären – einer Lebensform, zu der es heute sowieso schon fast kein Gegenteil mehr gibt.

Es ist wahr, Murgers junge Künstler verkaufen sich gelegentlich, aber nicht unter Wert, und sie machen vor allem keine Reklame. Ihr Leben besteht gerade nicht aus der Jagd nach Aufträgen und der Optimierung des CV. Die sagenhaft faulen Bohemiens malen, dichten, philosophieren nur, wenn es gar nicht anders geht, schicken jedes Jahr dasselbe Gemälde (mit kleinen Änderungen) an die Akademie, machen eher ihre Auftraggeber besoffen, als eine Arbeit pünktlich abzuliefern, brauen im Café auf Spirituskochern ihren eigenen Kaffee und führen dabei Gespräche »von solcher Beschaffenheit, daß der Kellner, der sie bediente, in der Blüte seiner Jahre ein Idiot wurde«. Lieber systematisieren sie das Geldpumpen, führen akribisch Buch, wann es bei wem mit welcher Ausrede etwas zu holen gibt. »Es ist doch etwas Schönes um die Addition«, bringt einer von Ihnen eine ganze Ästhetik der Gaunerei auf den Punkt.

Haben sie mal Geld, geben sie es im Rahmen von verschwenderischen ›Haushaltsplänen‹ aus, heuern Hausdiener an, die nur zum Schnapsbrennen taugen und speisen in den teuersten Restaurants, um bei leichtgläubigen Gönnern ihren Kredit in die Höhe zu treiben. Haben sie es nicht, teilen sie eben Quartier, Speise und Kleidung; wenn ihnen der Vermieter die Möbel auf die Straße stellt, findet eine geplante Soirée einfach unter freiem Himmel statt. Der Unterschied zu den Möchegernprekären neuerer Zeit ist, daß man damals noch im eigentlichen Sinne faul sein durfte, Künstlertum noch nicht zu permanenter Produktivität verdammte. Allen Möchtegernbohemiens sei angeraten, Murgers Büchlein gründlich zu studieren.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ganz, ganz sicher, unbekannter Ingenieur aus Mittelsachsen,

dass Du Deine Verteidigungsstrategie nicht überdenken willst? Unter uns, es klingt schon heftig, was Dir so alles vorgeworfen wird: Nach einem Crash sollst Du einem anderen Verkehrsteilnehmer gegenüber handgreiflich geworden sein, nur um dann Reißaus zu nehmen, als der Dir mit der Polizei kommen wollte.

Die beim wackeren Rückzug geäußerten Schmähungen, für die Du nun blechen sollst, wolltest Du vor dem Amtsgericht Freiberg dann aber doch nicht auf Dir sitzen lassen. Weder »Judensau« noch »Heil Hitler« willst Du gerufen haben, sondern lediglich »Du Sau« und »Fei bitter«. Magst Du das nicht noch mal mit Deinem Rechtsbeistand durchsprechen? Hast Du im fraglichen Moment nicht vielleicht doch eher Deinen Unmut über das wenig höfische Verhalten des anderen Verkehrsteilnehmers (»Kein Ritter!«) geäußert, hattest Deinen im selben Moment beschlossenen Abschied von den sozialen Medien (»Bye, Twitter!«) im Sinn, oder hast gar Deiner verspäteten Freude über die olympische Bronzemedaille des deutschen Ruder-Achters von 1936 (»Geil, Dritter!«) Ausdruck verliehen?

Nein? Du bleibst dabei? Und würdest dafür sogar ins Gefängnis gehen (»Fein, Gitter!«)?

Davor hat fast schon wieder Respekt: Titanic

 Huhu, »HNA« (»Hessische/Niedersächsische Allgemeine«)!

Mit großer Verblüffung lesen wir bei Dir in einem Testbericht: »Frischkäse ist kaum aus einem Haushalt in Deutschland wegzudenken.«

Och, Menno! Warum denn nicht? Und wenn wir uns nun ganz doll anstrengen? Wollen wir es denn, HNA, einmal gemeinsam versuchen? Also: Augen schließen, konzentrieren und – Achtung: hui! – weg damit! Uuuund: Futschikato! Einfach aus dem eigenen Haushalt weggedacht. Und war doch überhaupt nicht schlimm, oder?

Es dankt für die erfolgreiche Zusammenarbeit und hofft, einen kleinen Denkanstoß gegeben zu haben, wenn nicht gar einen Wegdenkanstoß: Titanic

 Damit hast Du nicht gerechnet, »Zeit online«!

Als Du fragtest: »Wie gut sind Sie in Mathe?«, wolltest Du uns da wieder einmal für dumm verkaufen? Logisch wissen wir, dass bei dieser einzigen Aufgabe, die Du uns gestellt hast (Z+), erstens der zweite Summand und zweitens der Mehrwert fehlt.

Bitte nachbessern: Titanic

 Sie, Romancier Robert Habeck,

Sie, Romancier Robert Habeck,

nehmen Ihren Nebenjob als Wirtschaftsminister wohl sehr ernst! So ernst, dass Sie durch eine Neuauflage Ihres zusammen mit Ihrer Ehefrau verfassten Romans »Der Tag, an dem ich meinen toten Mann traf« versuchen, fast im Alleingang dem darniederliegenden Literaturmarkt auf die Sprünge zu helfen. Könnten Sie sich als Nächstes das Zeitschriftensterben vorknöpfen?

Fragt Titanic

 Keine Übertreibung, Mathias Richling,

sei die Behauptung, dass die Ampel »einen desaströsen Eindruck bei jedermann« hinterlasse, denn in den vielen Jahren Ihrer Karriere, so schilderten Sie’s den Stuttgarter Nachrichten, hätten Sie es noch nie erlebt, »dass ohne jegliche pointierte Bemerkung allein die bloße Nennung des Namens Ricarda Lang ein brüllendes Gelächter auslöst«.

Aber was bedeutet das? »Das bedeutet ja aber, zu Mitgliedern der aktuellen Bundesregierung muss man sich nichts Satirisches und keinen Kommentar mehr einfallen lassen.« Nun beruhigt uns einerseits, dass Ihr Publikum, das sich an Ihren Parodien von Helmut Kohl und Edmund Stoiber erfreut, wohl immerhin weiß, wer Ricarda Lang ist. Als beunruhigend empfinden wir hingegen, dass offenbar Sie nicht wissen, dass Lang gar kein Mitglied der aktuellen Bundesregierung ist.

Muss sich dazu nichts Satirisches und keinen Kommentar mehr einfallen lassen: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 3:6, 6:7, 0:6

Der Volontär in der Konferenz der Sportredaktion auf die Bitte, seine Story in drei Sätzen zu erzählen.

Ronnie Zumbühl

 Dilemma

Zum Einschlafen Lämmer zählen und sich täglich über einen neuen Rekord freuen.

Michael Höfler

 Süße Erkenntnis

Für jemanden, der Pfirsich liebt, aber Maracuja hasst, hält die Welt viele Enttäuschungen bereit.

Karl Franz

 Nachwuchs

Den werdenden Eltern, die es genau mögen, empfehle ich meinen Babynamensvorschlag: Dean Norman.

Alice Brücher-Herpel

 Hellseherisch

Morgen ist einfach nicht mein Tag.

Theo Matthies

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
05.12.2023 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview« mit Stargast Til Mette
06.12.2023 Oldenburg, Wilhelm 13 Bernd Eilert mit Sandra Kegel und Klaus Modick
06.12.2023 Berlin, Das ERNST Hauck & Bauer mit Kristof Magnusson
07.12.2023 Bad Homburg, Kulturzentrum Englische Kirche Pit Knorr & Die Eiligen Drei Könige