Inhalt der Printausgabe

Oktober 2005


Humorkritik
(Seite 4 von 8)

Orthodoxie mit Lametta

Ernst-Lubitsch-Preis, Bogey, Publikumspreis in Madrid, Deutscher Filmpreis in den Kategorien Bester Spielfilm, Regie, Kostümbild, Drehbuch, Filmmusik und Beste männliche Hauptrolle: mächtig abgeräumt hat die zu Jahresanfang gestartete Komödie »Alles auf Zucker«. Und so skeptisch ich meist auf derlei Prämien- und Lobeshäufungen reagiere, neulich hab’ ich mich diesem Kammer-Lustspiel gestellt und mich gleich auf mehrerlei Weise amüsiert. Zum Beispiel darüber, wie bilderbuchhübsch meine Vorahnungen bestätigt wurden. Denn soviel war klar: Wo WDR, Bayerischer Rundfunk und Arte mitschnippelten, mußte ein matschiger Themensalat entstehen, der dann noch mit der unleckeren deutsch-deutschen Debatten-Dauerwurst garniert wurde.
Wenn ein Radfahrer nächtens einen Autofahrer beschimpft, der ihm die Vorfahrt genommen hat, und dieser zurückschimpft, weil der Radler unbeleuchtet unterwegs ist – dann liegt exakt das Schema jener Ossi-Wessi-Streitgespräche vor, die wir seit sechzehn Jahren inner- wie außerhalb deutscher Spielfilme ertragen müssen. Mittlerweile scheint mir, daß das West-Ost-Gefälle gar nicht genügend Abschüssigkeit aufwies, um wirklich komische Knalleffekte zu erzeugen; die öden diesbezüglichen Diskurse in »Alles auf Zucker« jedenfalls legen die Vermutung nahe. Glücklicherweise fungieren sie als bloße Bei- und Dreingabe; fürs dramatische Hauptfeuerwerk zeichnet ein Funkengenerator verantwortlich, zwischen dessen zwei Polen tatsächlich Hochspannung besteht: eine jüdisch-orthodoxe Familie einer-, ein realexistierendes Ostberliner Ehepaar andererseits, die in Erwartung einer gemeinsamen Erbschaft für ein paar Tage zusammenziehen und sich vertragen müssen.
Entscheidend fürs Funktionieren eines solchen Archetypen-Konzepts ist, daß beiden Seiten Chancengleichheit eingeräumt wird im Kampf um die Publikumssympathie, wobei gerade die dem Durchschnittszuschauer unbekannte Sphäre liebevoll präsentiert werden muß, um Interesse zu wecken: Hier leisten Udo Samel als Familienvater und Rolf Hoppe als Rabbi gute Arbeit, unterstützt von einem kundigen Drehbuch, das jüdische Tradition speziell mit dem Zug geübt-gewitzten Vorschriftenauslegens und Auswegefindens ins Bild setzt.
Weil Henry Hübchen als gründlich areligiöser Widerpart auf gleichem Niveau gegenhält, glückt das Ganze bravourös, soweit es um dieses Zentrum der Verwirrungen geht. So ziemlich alles drumherum nämlich gerät unansehnlich: die Verkörperung bzw. Nichtverkörperung von Hübchens Ehefrau durch eine aufs dilettantischste berlinernde Hannelore Elsner, die sich über den ganzen Film hinweg warmläuft, aber nicht eine Sekunde lang wirklich teilnimmt; der verklemmte Karriere-Banker; die doppelte Cousin-Cousine-Liebelei; die Ecstasypillen in der Aspirinpackung, die Nachtklub-Damen im Notarztkittelchen usw. usf. – alles Komödienlametta, das auf Übermotiviertheit und letztlich mangelndes Vertrauen ins eigene Konzept schließen läßt. Weshalb ich die XXL-Dosis Lorbeer, die Regisseur Dani Levi und seinem Film zuteil wurde, wieder mal nicht begrüßen kann, nebbich.



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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hej, Gifflar!

Du bist das Zimtgebäck eines schwedischen Backwarenherstellers und möchtest mit einer Plakatkampagne den deutschen Markt aufrollen. Doch so sehr wir es begrüßen, wenn nicht mehr allein Köttbullar, Surströmming und Ikeas Hotdogs die schwedische Küche repräsentieren, so tief bedauern wir, dass Du mit Deinem Slogan alte Klischees reproduzierst: »Eine Schnecke voll Glück«? Willst Du denn für alle Ewigkeiten dem Stereotyp der schwedischen Langsamkeit hinterherkriechen? Als regierten dort immer noch Sozialdemokraten, Volvo und Schwedenpornos?

Damit wirst Du nie der Lieblingssnack der Metropolenjugend!

Sagen Dir Deine Zimt- und Zuckerschnecken von Titanic

 Clever, »Brigitte«!

Du lockst mit der Überschrift »Fünf typische Probleme intelligenter Menschen«, und wir sind blöd genug, um draufzuklicken. Wir lernen, dass klug ist: wer mehr denkt, als er spricht, wer sich ungeschickt im Smalltalk anstellt, wer sich im Job schnell langweilt, wer sich mit Entscheidungen schwertut, wer bei Streit den Kürzeren zieht und wer ständig von Selbstzweifeln geplagt wird.

Frustriert stellen wir fest, dass eigentlich nichts von alledem auf uns zutrifft. Und als die Schwachköpfe, die wir nun einmal sind, trauen wir uns fast gar nicht, Dich, liebe Brigitte, zu fragen: Waren das jetzt nicht insgesamt sechs Probleme?

Ungezählte Grüße von Deiner Titanic

 Verehrte Joyce Carol Oates,

da Sie seit den Sechzigern beinah im Jahrestakt neue Bücher veröffentlichen, die auch noch in zahlreiche Sprachen übersetzt werden, kommen Sie vermutlich nicht dazu, jeden Verlagstext persönlich abzusegnen. Vielleicht können Sie uns dennoch mit ein paar Deutungsangeboten aushelfen, denn uns will ums Verrecken nicht einfallen, was der deutsche Ecco-Verlag im Sinn hatte, als er Ihren neuen Roman wie folgt bewarb: »›Babysitter‹ ist ein niederschmetternd beeindruckendes Buch, ein schonungsloses Porträt des Amerikas der oberen Mittelschicht sowie ein entlarvender Blick auf die etablierten Rollen der Frau. Oates gelingt es, all dies zu einem unglaublichen Pageturner zu formen. In den späten 1970ern treffen in Detroit und seinen Vorstädten verschiedene Leben aufeinander«, darunter »eine rätselhafte Figur an der Peripherie der Elite Detroits, der bisher jeglicher Vergeltung entkam«.

Bitte helfen Sie uns, Joyce Carol Oates – wer genau ist ›der Figur‹, dem es die elitären Peripherien angetan haben? Tragen die Leben beim Aufeinandertreffen Helme? Wie müssen wir uns ein Porträt vorstellen, das zugleich ein Blick ist? Wird das wehtun, wenn uns Ihr Buch erst niederschmettert, um dann noch Eindrücke auf uns zu hinterlassen? Und wie ist es Ihnen gelungen, aus dem unappetitlich plattgedrückten Matsch zu guter Letzt noch einen »Pageturner« zu formen?

Wartet lieber aufs nächste Buch: Titanic

 Eher unglaubwürdig, »dpa«,

erschien uns zunächst Deine Meldung, Volker Wissing habe nach dem tödlichen Busunglück auf der A9 bei Leipzig »den Opfern und Hinterbliebenen sein Beileid ausgesprochen«. Andererseits: Wer könnte die Verstorbenen auf ihrem Weg ins Jenseits noch erreichen, wenn nicht der Bundesverkehrsminister?

Tippt aufs Flugtaxi: Titanic

 Kurze Anmerkung, Benedikt Becker (»Stern«)!

»Wer trägt heute noch gerne Krawatte?« fragten Sie rhetorisch und machten den Rollkragenpullover als neues It-Piece der Liberalen aus, v. a. von Justizminister Marco Buschmann und Finanzminister Christian Lindner, »Was daran liegen mag, dass der Hals auf die Ampelkoalition besonders dick ist. Da hilft so eine Halsbedeckung natürlich, den ganzen Frust zu verbergen.«

Schon. Aber wäre es angesichts des Ärgers der beiden Freien Demokraten über SPD und Grüne nicht passender, wenn sie mal wieder so eine Krawatte hätten?

Ebenso stilistisch versiert wie stets aus der Mode: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Die wahre Strafe

Verhaftet zu werden und in der Folge einen Telefonanruf tätigen zu müssen.

Fabio Kühnemuth

 Frage an die Brutschmarotzer-Ornithologie

Gibt es Kuckucke, die derart hinterhältig sind, dass sie ihre Eier anderen Kuckucken unterjubeln, damit die dann fremde Eier in fremde Nester legen?

Jürgen Miedl

 Back to Metal

Wer billig kauft, kauft dreimal: Gerade ist mir beim zweiten Sparschäler innerhalb von 14 Tagen die bewegliche Klinge aus ihrer Plastikaufhängung gebrochen. Wer Sparschäler aus Kunststoff kauft, spart also am falschen Ende, nämlich am oberen!

Mark-Stefan Tietze

 Citation needed

Neulich musste ich im Traum etwas bei Wikipedia nachschlagen. So ähnlich, wie unter »Trivia« oft Pub-Quiz-Wissen gesammelt wird, gab es da auf jeder Seite einen Abschnitt namens »Calia«, voll mit albernen und offensichtlich ausgedachten Zusatzinformationen. Dank Traum-Latinum wusste ich sofort: Na klar, »Calia« kommt von »Kohl«, das sind alles Verkohl-Facts! Ich wunderte mich noch, wo so ein Quatsch nun wieder herkommt, wusste beim Aufwachen aber gleich, unter welcher Kategorie ich das alles ins Traumtagebuch schreiben konnte.

Alexander Grupe

 Finanz-Blues

Wenn ich bei meiner langjährigen Hausbank anrufe, meldet sich immer und ausnahmslos eine Raiffeisenstimme.

Theobald Fuchs

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg