Inhalt der Printausgabe

Oktober 2004


Humorkritik
(Seite 6 von 6)

Sofakissen-Avantgarde
Ein knappes Jahrzehnt ist vergangen, seit ich das Berliner Lesebühnen-Wesen (und seinerzeit speziell die Reformbühne Heim und Welt) samt angestammtem Publikumsunwesen einer kritischen Würdigung unterzogen habe; die dieser Veranstaltungsform keineswegs geschadet hat, im Gegenteil - die Lesebühnen wie ihre Zuhörer haben sich vervielfacht seither: Fanden sich zwischenzeitlich sieben dieser wöchentlichen Veranstaltungsreihen gleichmäßig über sämtliche Abende verteilt, so buhlen mittlerweile mehr als ein Dutzend Lesebühnen ums Hauptstadtpublikum, und das nicht vergebens.
Kein Zweifel, die Richtung boomt, und Konkurrenz hebt das Niveau, und ähnlich wie im Falle der gleichfalls expandierenden Poetry-Slam-Bewegung bemerke ich eine deutliche Qualitätssteigerung. Und zwar speziell, was die Sorgfalt der Vorbereitung angeht. Kein Wunder: Die praktisch überall verbreitete Slammerei und die berlinexklusive Lesebühnenmode haben sich verschwistert, immer öfter trifft man Stars der Berliner Szene über Land auf den Slams. Logisch, daß der trainierte Vortragsstil genuiner Slammer vermehrt auch auf Lesebühnen Einzug hält. Und daß abgerundete Manuskripte in Gestalt ordentlicher "Word"-Ausdrucke mittlerweile den Standard darstellen, während die einst ungemein angesagten Performances mit fragmentarischen, unleserlichen Zetteln an Wirkung und Verbreitung stark eingebüßt haben.
Einwandfreie Präsentation ist im Kommen, auch was die von Lesebühnen herausgegebenen Print-Veröffentlichungen angeht. Zum ostalgischen Preis von "2,95 _ + 0,05 _ Kulturbeitrag" etwa gibt's die von der "Chaussee der Enthusiasten" fabrizierte Brillenschlange, ein hübsch gemachtes Heftchen voll hübsch gemachter Texte, die größtenteils dem traditionellen Unterhaltungsgenre zuzuschlagen sind. Avantgardistische Experimente, wie sie dem legendären Ruf der Lesebühnen zufolge deren Charakter prägen sollen, spielen keine Rolle mehr. Eine Entwicklung, die ich grundsätzlich begrüße, bloß, daß sie mir längst in ein Gegenextrem umgeschlagen zu sein scheint: in jene Neue Anständigkeit und auf frech gegelte Harmlosigkeit, wie sie von unseren einheimischen Stand-up-Comedians kultiviert werden.
Diese ergehen sich ja, die notorischen Unappetitlichkeiten zum Lieblingsthema Sex einmal ausgenommen, praktisch durchweg in geschmäcklerischer Tüttel- und Krittelei betreffend Sofakissen, Küchengeräte und Frisuren. Politisches ist unüblich und findet sich auch auf Lesebühnen nur mehr ausnahmsweise. Man muß sich das vorstellen: Führungsfiguren der Szene, die sich sichtlich als solche wahrnehmen und dies mit teils eindrucksvoller Haartracht, teils noch eindrucksvolleren Pseudonymen dokumentieren (Spider, Gauner, Hans Duschke oder Dr. Seltsam) - sie räsonieren übers Geschirrspülen und Putzen, über den Euro und übers Onanieren; kurzum, das thematische Spektrum einer Frauenillustrierten ist's, das mittlerweile einen Szene-Leseabend füllt. Mag seine sprachliche Bandbreite etwas großzügiger bemessen sein als die einer mittleren Allegra-Ausgabe, eher enger noch als dort fällt der Spielraum der auf Lesebühnen geschilderten Lebensverhältnisse aus. Diesbezüglich hat die Bewegung längst ihre Klassik entwickelt und ein spezielles Lebensgefühl etabliert: Der typische Lesebühnen-Ich-Erzähler ist Single ohne geregelte Brotarbeit und hat sich mit diesen Konditionen eingerichtet - echte Anfechtungen, gleich ob finanzieller oder emotionaler Natur, erreichen ihn nicht. Erotik wird noch nicht einmal in Form von Affären, allenfalls von Anflügen erlebt. Als Prototyp firmiert der nette Studienabbrecher von nebenan, womit sich literarische und reale Existenz der Autoren so ziemlich deckungsgleich zeigen.
Tatsächlich gilt für einige aus der Lesebühnen-Mischpoke, daß sie - um diesen Ausdruck zu gebrauchen - "davon leben", also keine anderen namhaften Einnahmen beziehen. Auch so erklärt sich jene, verglichen mit arroganten Siebziger-Jahre-Experimenten geradezu ehrfürchtige Publikumspflege, die zunehmend betrieben wird: Empfangen doch die Autoren vom Auditorium praktisch ihre komplette Versorgung, auch, was ihr Selbstbewußtsein angeht. Während umgekehrt das treue, gleichfalls nicht finanzstarke Publikum würdigt, daß ihm hier für geringes, bisweilen gar freiwillig zu entrichtendes Eintrittsgeld eine ordentliche Show geboten wird. So daß Lesebühnen als Prototypen funktionierenden unsubventionierten Kunsttreibens gelten können - worauf sie ruhig ein bißchen stolz sein dürfen.
Schon deshalb würde ich gern auch echte Helden dort erleben, Autoren also, die nicht bloß unspektakulären Alltag besingen, sondern auch mal dichtend diese Situation überwinden, und zwar glaubwürdig. Eine Liebesgeschichte, ein Drachenkampf, ein gelungener Ölwechsel am Auto, wär' das nichts? Und im Schlußsatz dürfte sogar das Sofakissen vorkommen.


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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Die Frage, weshalb Joe Biden in seinem hohen Alter noch mal für das Präsidentenamt kandidiert, anstatt sich zur Ruhe zu setzen, kommentieren Sie so: »Warum muss man eigentlich loslassen? Wenn man etwas gerne macht, wenn man für etwas lebt, dann macht man halt weiter, soweit man kann. Ich schreibe meine Bücher, weil es mir Spaß macht und weil ich nicht Golf spielen kann. Und irgendwie muss ich mich ja beschäftigen.«

Daran haben wir, Wickert, natürlich nicht gedacht, dass der sogenannte mächtigste Mann der Welt womöglich einfach keine Lust hat, aufzuhören, auch wenn er vielleicht nicht mehr ganz auf der Höhe ist. Dass ihn das Regieren schlicht bockt und ihm obendrein ein Hobby fehlt. Ja, warum sollte man einem alten Mann diese kleine Freude nehmen wollen!

Greifen Sie hin und wieder doch lieber zum Golfschläger statt zum Mikrofon, rät Titanic

 Ah, »Galileo«!

Über die Arbeit von Türsteher/innen berichtest Du: »Viele Frauen arbeiten sogar als Türsteherinnen«. Wir setzen noch einen drauf und behaupten: In dieser Branche sogar alle!

Schmeißen diese Erkenntnis einfach mal raus:

Deine Pointen-Bouncer von Titanic

 Chillax, Friedrich Merz!

Sie sind Gegner der Cannabislegalisierung, insbesondere sorgen Sie sich um den Kinder- und Jugendschutz. Dennoch gaben Sie zu Protokoll, Sie hätten »einmal während der Schulzeit mal einen Zug dran getan«.

Das sollte Ihnen zu denken geben. Nicht wegen etwaiger Spätfolgen, sondern: Wenn ein Erzkonservativer aus dem Sauerland, der fürs Kiffen die Formulierung »einen Zug dran tun« wählt, schon in der Schulzeit – und trotz sehr wahrscheinlichem Mangel an coolen Freund/innen – an Gras kam, muss dann nicht so ziemlich jedes andere System besseren Jugendschutz garantieren?

Sinniert

Ihre Titanic

 Hey, »Dyn Sports«!

Bitte für zukünftige Moderationen unbedingt merken: Die Lage eines Basketballers, der nach einem Sturz »alle Viere von sich streckt«, ist alles Mögliche, aber bestimmt nicht »kafkaesk«. Sagst Du das bitte nie wieder?

Fleht Titanic

 Eher unglaubwürdig, »dpa«,

erschien uns zunächst Deine Meldung, Volker Wissing habe nach dem tödlichen Busunglück auf der A9 bei Leipzig »den Opfern und Hinterbliebenen sein Beileid ausgesprochen«. Andererseits: Wer könnte die Verstorbenen auf ihrem Weg ins Jenseits noch erreichen, wenn nicht der Bundesverkehrsminister?

Tippt aufs Flugtaxi: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Im Institut für Virologie

Jeder Gang macht krank.

Daniel Sibbe

 Gute Nachricht:

Letzte Woche in der Therapie einen riesigen Durchbruch gehabt. Schlechte Nachricht: Blinddarm.

Laura Brinkmann

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 Mitgehört im Zug

»Prostitution ist das älteste Gewerbe der Welt!« – »Ja, aber das muss es ja nicht bleiben.«

Karl Franz

 Dual Use

Seit ich meine In-Ear-Kopfhörer zugleich zum Musikhören und als Wattestäbchen verwende, stört es mich gar nicht mehr, wenn beim Herausnehmen der Ohrstöpsel in der Bahn getrocknete Schmalzbröckelchen rauspurzeln.

Ingo Krämer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
06.05.2024 Hannover, Pavillon Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
06.05.2024 Hamburg, Centralkomitee Ella Carina Werner
07.05.2024 Köln, Stadthalle Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
07.05.2024 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview« mit Kathrin Hartmann