Inhalt der Printausgabe

Oktober 2004


Humorkritik
(Seite 2 von 6)

Rocko "Dangerblood" Schamoni
Vier Jahre nach "Risiko des Ruhms" (TITANIC 8/2000), seiner mehr oder minder fiktionalen Autobiographie, legt der Hamburger Musiker, Entertainer und Clubbetreiber Rocko Schamoni nun seine richtige und echte Lebensbeichte vor - so echt jedenfalls, wie man das von "Monsieur 70 Volt", dem ewigen Underground-Stilkönig von eigenen Gnaden, erwarten und befürchten kann, ja muß.
Mit Hingabe und schonungsloser Schärfe beschreibt er im gleichnamigen Werk auf rund zweihundert Seiten das Leben und Treiben der ihn umgebenden "Dorfpunks" (rororo): "Wir waren eine von diesen kleinen Mistgangs, die den Erwachsenen das Leben zur Hölle machten. Wir waren die Arschlöcher, die ich selber heute so zum Kotzen finde, wenn ich sie gelangweilt an irgendeinem S-Bahnhof rumhängen sehe und weiß: Unheil naht." Das Buch handelt von Feiern, Saufgelagen und verzweifelten Ausbrüchen wohntechnischer und sexueller Natur - was man eben so anstellt, wenn man, den Eltern sei Dank, Tobias Albrecht heißt und in den achtziger Jahren und im norddeutschen "Schmalenstedt" (i. e. Lütjenburg in Ostholstein) eine wilde Jugend hinter sich zu bringen versucht.
In buchstäblich letzter Minute wird der angehende AC/DC-Hardrocker von der rettenden Punkwelle aus England erfaßt, und das dröge Provinzdasein bekommt plötzlich ein neues, feuriges Aroma: "Ich wurde zu Roddy (Rodriguez) Dangerblood, Flo zu Johnny Anaconda, Piekmeier zu Jimmy Deadfuck, Maria zu Frenchy Diamond, Christoph Paul zu Uglus, Andi Schell zu Eisenkopf usw. Unsere früheren Namen warfen wir ab wie alte Häute, sie waren die Bezeichnungen, die uns von unseren Eltern und einer starren Maschine hinter ihnen übergestreift worden waren, um uns zu identifizieren. Wir wollten aber nicht mehr zu identifizieren sein."
Roddy experimentiert, die Schweridentifizierbarkeit weiter zu steigern, mit der Nagelschere an seinen Haaren herum, übt an der Backe mit Sicherheitsnadeln, gründet Bands, die "Warhead", "Die Amigos", "Die Götter" und später sogar "Seine Eltern" heißen, und nimmt die ganze Punk-Geschichte, die anderswo schon wieder zur stumpfen, harten Rocknummer verkommen ist, als probates Mittel zum Spaßzweck. Angetan mit Poncho, Sombrero und silbernen Schlaghosen spielt er kaputte Schlagermusik und singt, nach einer neuerlichen Umbenennung: "Hallo, ich bin Rocko Schamoni".
All das liest sich launig, schnell und heiter weg, gegen Ende läuft auch allerlei Redundantes auf, wenn der Erzähler eruiert, wer wann mit wem besoffen wohin reiherte oder wie verschiedene Konzerte wohl so waren ("Das Konzert war spitzenmäßig"), sprachlich bleibt Schamoni zuverlässig volksnah, nur gelegentlich greift er herzhaft in die vollen und liefert prompt Verhageltes ("In uns klafften wachsende Löcher"). Aber das gehört dazu.
Mein Anspieltip: das Kapitel "Freiwillige Isolationshaft", darin Schamoni die endlosen grauen Jahre seiner Töpferlehre beschreibt. Zwischen Tonklumpen, Brennofen und dem vermatschten Radioapparat, der leider nur eine Stunde am Tag "Musik für junge Leute" liefert, plant der unglückliche Jungpunk sein eigenes Fanzine ("So nannte man damals die selbstgebastelten und kopierten Hefte von Punks für Punks"), das, so deute ich Schamonis Bericht, ein sensationeller Erfolg hätte werden können:
"Ich schrieb also die eine Hälfte meiner Artikel aus anderen Zeitungen ab, und die andere erfand ich. Dabei berichtete ich von Bands mit so bescheuerten Namen wie ›Die Giftzwerge‹, die ich in Neumünster gesehen haben wollte und die ich sehr schlecht fand. Ich konnte sie definitiv nicht weiterempfehlen. Ich schrieb über eine exquisite, sehr seltene neuseeländische Punk-LP von einer Band namens ›The Shitlers‹, Titel der Platte: ›Greatest Shits‹. (…) Ich schnitt Bilder aus allen möglichen Zeitungen, bevorzugt aber aus medizinischen Fachjournalen aus und designte daraus mein Heft. Am wichtigsten war natürlich der Name. Ich überlegte sehr lange, und schließlich war ich mir sicher, daß das Heft Bitte ein Pißscheiße heißen sollte. Die für mich faszinierende Idee dabei war, daß die Käufer im Zeitschriftenladen statt ›Bitte einen Stern‹ ›Bitte ein Bitte ein Pißscheiße‹ hätten verlangen müssen."
Was lehrt uns das? "Punk is dead" zum einen, andererseits lebt er allerorten wieder auf (die neue und auch sehr gute, weil musikalisch dem Erbe Schamonis verpflichtete CD der Hamburger Formation "Superpunk" heißt "Einmal Superpunk bitte"), und es bleibt die traurige Gewißheit: Zeitschriften mit schönen Namen kommen nur ganz selten über die Erstausgabe hinaus. Das Leben schreibt die greatest shits.


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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Helen Fares, c/o »SWR« (bitte nachsenden)!

Sie waren Moderatorin des Digital-Formats MixTalk und sind es nun nicht mehr, nachdem Sie ein launiges kleines Video veröffentlicht haben, in dem Sie zum Boykott israelischer Produkte aufriefen, mit Hilfe einer eigens dafür programmierten App, die zielsicher anzeigt, wo es in deutschen Supermärkten noch immer verjudet zugeht (Eigenwerbung: »Hier kannst Du sehen, ob das Produkt in Deiner Hand das Töten von Kindern in Palästina unterstützt oder nicht«).

Nach Ihrem Rauswurf verteidigten Sie sich in einem weiteren Video auf Instagram: »Wir sind nicht antisemitisch, weil wir es boykottieren, Produkte von Unternehmen zu kaufen, die Israel unterstützen. Ein Land, das sich vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Genozid verantworten muss, weil es Zehntausende von Menschen abgeschlachtet hat.« Da sich aber auch Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Beihilfe zum Genozid verantworten muss, war Ihre Kündigung beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk ja ohnehin einvernehmlich, oder?

Kann es sich nicht anders vorstellen: Titanic

 Weiter so, uruguayischer Künstler Pablo Atchugarry!

Eine angeblich von Ihnen geschaffene Bronzeskulptur im englischen Cambridge soll an Prinz Philip erinnern, der dort von 1977 bis 2011 Kanzler der Universität war. Allerdings wird das Kunstwerk, das im Auftrag eines reichen Bauträgers angefertigt wurde, von vielen als verunglückt empfunden und zieht seit nunmehr zehn Jahren Spott auf sich.

Dass Sie mittlerweile die Urheberschaft leugnen, um Ihr Renommee als Künstler zu schützen, ist zwar verständlich, aber aus unserer Sicht völlig unnötig. Wenn sich das Konzept durchsetzt, lästige Promis, die uns über Jahrzehnte viel Zeit, Geld und Nerven gekostet haben, mit langlebigen Schrott-Monumenten zu schmähen, werden Sie sich vor Aufträgen bald kaum noch retten können. Und das Beste: Weil andere Großkopferte sich mit ihren Eskapaden zurückhalten würden, um nicht von Ihnen verewigt zu werden, sorgten Sie auch noch für Ruhe und gesellschaftlichen Frieden.

Hofft, dass dieser Vorschlag einen Stein ins Rollen bringt: Titanic

 Verehrte Joyce Carol Oates,

da Sie seit den Sechzigern beinah im Jahrestakt neue Bücher veröffentlichen, die auch noch in zahlreiche Sprachen übersetzt werden, kommen Sie vermutlich nicht dazu, jeden Verlagstext persönlich abzusegnen. Vielleicht können Sie uns dennoch mit ein paar Deutungsangeboten aushelfen, denn uns will ums Verrecken nicht einfallen, was der deutsche Ecco-Verlag im Sinn hatte, als er Ihren neuen Roman wie folgt bewarb: »›Babysitter‹ ist ein niederschmetternd beeindruckendes Buch, ein schonungsloses Porträt des Amerikas der oberen Mittelschicht sowie ein entlarvender Blick auf die etablierten Rollen der Frau. Oates gelingt es, all dies zu einem unglaublichen Pageturner zu formen. In den späten 1970ern treffen in Detroit und seinen Vorstädten verschiedene Leben aufeinander«, darunter »eine rätselhafte Figur an der Peripherie der Elite Detroits, der bisher jeglicher Vergeltung entkam«.

Bitte helfen Sie uns, Joyce Carol Oates – wer genau ist ›der Figur‹, dem es die elitären Peripherien angetan haben? Tragen die Leben beim Aufeinandertreffen Helme? Wie müssen wir uns ein Porträt vorstellen, das zugleich ein Blick ist? Wird das wehtun, wenn uns Ihr Buch erst niederschmettert, um dann noch Eindrücke auf uns zu hinterlassen? Und wie ist es Ihnen gelungen, aus dem unappetitlich plattgedrückten Matsch zu guter Letzt noch einen »Pageturner« zu formen?

Wartet lieber aufs nächste Buch: Titanic

 Grüß Gott, Businesspäpstin Diana zur Löwen!

Du verkaufst seit Neuestem einen »Anxiety Ring«, dessen »bewegliche Perlen« beim Stressabbau helfen sollen. Mal abgesehen davon, dass das einfach nur das hundertste Fummelspielzeug ist, kommen uns von ihren Nutzer/innen glorifizierte und zur Seelenerleichterung eingesetzte bewegliche Perlen an einer Kette verdächtig bekannt vor.

Ist für Dich natürlich super, denn auch wenn Du Deinen treuen Fans skrupellos das Geld aus der Tasche ziehst, in die Hölle kommst Du zumindest für diese Aktion sicher nicht.

Auch wenn dafür betet:

Deine Titanic

 Rrrrr, Jesus von Nazareth!

Rrrrr, Jesus von Nazareth!

Im andalusischen Sevilla hast Du eine Kontroverse ausgelöst, der Grund: Auf dem Plakat für das Spektakel »Semana Santa« (Karwoche) habest Du zu freizügig ausgesehen, zu erotisch, ja zu hot!

Tja, und wie wir das besagte Motiv anschauen, verschlägt es uns glatt die Sprache. Dieser sehnsüchtige Blick, der kaum bedeckte anmutige Körper! Da können wir nur flehentlich bitten: Jesus, führe uns nicht in Versuchung!

Deine Dir nur schwer widerstehenden Ungläubigen von der Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Altersspezifisch

Ich gehöre noch zu einer Generation, deren Sätze zu häufig mit »Ich gehöre noch zu einer Generation« anfangen.

Andreas Maier

 Tödliche Pilzgerichte (1/1)

Gefühlte Champignons.

Lukas Haberland

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 Vom Feeling her

Es hat keinen Sinn, vor seinen Gefühlen wegzulaufen. Man muss sich schon auch mal hinter einem Baum verstecken und warten, dass die das nicht merken und an einem vorbeiziehen, sonst bringt das ja alles nichts.

Loreen Bauer

 Dual Use

Seit ich meine In-Ear-Kopfhörer zugleich zum Musikhören und als Wattestäbchen verwende, stört es mich gar nicht mehr, wenn beim Herausnehmen der Ohrstöpsel in der Bahn getrocknete Schmalzbröckelchen rauspurzeln.

Ingo Krämer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
07.05.2024 Köln, Stadthalle Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
07.05.2024 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview« mit Kathrin Hartmann
08.05.2024 Wiesbaden, Schlachthof Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
09.05.2024 Zürich, Friedhof Forum Thomas Gsella