Inhalt der Printausgabe
Juli 2004
Humorkritik (Seite 5 von 9) |
Der komische Dr. Kien |
Als großer Komiker ist Elias Canetti nicht bekannt geworden, und als lustiger Roman wurde auch sein Meisterwerk "Die Blendung" noch nicht richtig zur Kenntnis genommen. Dabei sind schon dessen Hauptfiguren nichts weniger als ernsthafte Menschen, sondern ihre lächerlichen Karikaturen: der lebensuntüchtige, in seiner Bücherwelt eingesponnene hagere Privatgelehrte Dr. Peter Kien einerseits, der mit geschlossenen Augen arbeitet, um sich nicht abzulenken, der in seiner Wohnung die Seitenfenster hat zumauern lassen (denn "die Versuchung, das Treiben auf der Straße zu beobachten -- eine zeitraubende Unsitte, die man offenbar mit auf die Welt bekommt - fiel mit den Seitenfenstern weg"), und der lästige Alltagserscheinungen wie Bett, Waschtisch und Nachtkasten nur "die böse Drei" nennt; andererseits seine dicke, doofe und dreiste Haushälterin Therese, Trutschel, Trampel und Drachen in einem, die schier jedes Thema zu dem Punkt führt, wo sie in die Klage "Die Kartoffeln kosten bereits das Doppelte" ausbrechen kann - groteske Überzeichnungen des Gehirnmenschen bzw. des geistlosen Kleinbürgers also, die der Demiurg Canetti obendrein einander heiraten läßt, auf daß der schmerzhaften Karambolagen und komischen Peinlichkeiten kein Ende sei. Dieses naht denn auch erst, lange nachdem der "größte Sinologe seiner Zeit" von seinem robusten Ehegespons bis aufs Hemd ausgeplündert und sogar aus seiner Wohnung hinausgeworfen wurde, ohne daß Kien sich darob sehr verwunderte. Unterschlupf findet er beim perversen Hausbesorger im Erdgeschoß, wo er nun, statt über chinesischer Literatur zu brüten, durch ein Loch in der Wand das Treppenhaus beobachtet und bald nur ein Ziel hat, wie er seinem Wirt verkündet, nämlich "die wissenschaftliche Arbeit am Guckloch zu beenden. Eine ›Charakterologie nach Hosen‹ sei geplant, samt einem ›Anhang über die Schuhe‹. Zum Essen habe er keine Zeit; morgen vielleicht." Wie denn Canetti überhaupt komische Einfälle hat, komische Szenen schildert, komische Charaktere vorführt und summa summarum eine komplett lädierte Gesellschaft aus lauter verbeulten Existenzen beschreibt, daß es auf den fünfhundert Seiten nie langweilig wird. Im Gegenteil, fast wünscht man sich, daß gelegentlich eine Pause die fast endlose Folge der Blamagen gnädig unterbreche, die Kien, dessen Name kaum zufällig an Kant und Königsberg anklingt, dank der Heimtücke, Habsucht und Machtgier der anderen in einem fort erleidet. Canetti hatte die 1936 erschienene "Blendung", diese Gelehrtenparodie und Gesellschaftssatire, als erstes Buch einer achtbändigen Romanreihe namens "Comédie Humaine an Irren" geplant. 58 Jahre lang konnte man auf die sieben anderen Bände hoffen, dann, 1994, starb Canetti. Nun wird man leider ewig warten müssen. |
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