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"Ein Hauch von Pariser Vorort"

Eine kleine langweilige Unistadt macht mit einem durchseuchten Wohnklotz auf sich aufmerksam. TITANIC-Redakteur Leo Riegel berichtet aus seiner Geburtsstadt.

Am Ende der Weender Straße angekommen, deutet Rolf-Georg Köhler (68) auf den grauweißen Koloss schräg gegenüber der Kreuzung: "Da ist er, unser, naja, Problem-Bau!" Die tristen Balkonwaben und Beton-Galerien des Göttinger Iduna-Zentrums, sie sind derzeit in allen Medien zu sehen, mal von links unten, mal von rechts unten, manchmal aber auch leicht mittig. "Zeit online, der Spiegel, Darmstädter Echo", listet der SPD-Oberbürgermeister Köhler auf: "Schlimm ist das!" Seltsam: Ein zufriedenes Lächeln zeichnet sich unter seinem Atemschutz ab, während er das sagt.

Seit das verträumte Städtchen binnen kürzester Zeit zum neuen Corona-Hotspot wurde, steht hier nichts mehr still, beziehungsweise alles, je nachdem, wie man es betrachtet. So viel Aufmerksamkeit hat Göttingen jedenfalls lange nicht mehr bekommen. Von einem missglückten Comeback der Guano Apes und der alljährlichen Fahrradversteigerung mal abgesehen war in der "Stadt, die Wissen schafft" (offizieller Slogan) in den letzten Jahrzehnten auch herzlich wenig los.

Wir erklimmen die massive Außentreppe des siebzig Meter hohen Wohnkomplexes, in dem die Verbreitung des Virus' stattfand und noch stattfindet. Köhler lehnt am Geländer und lässt die Ereignisse Revue passieren. Der Verstoß mehrerer Großfamilien gegen die Corona-Auflagen im Rahmen des Zuckerfestes, der anschließende rasante Anstieg der Infektionen. Dem folgte die angebliche Weigerung zahlreicher Anwohner, an Massentests teilzunehmen. "Ja gut. Da wurde nicht ganz sauber berichtet vom Lokalblatt. Aber ein bisschen Empörung in der Bevölkerung kann nach so einem Lockdown sicher nicht schaden", lacht Köhler. Eine Tomate verfehlt seinen Kopf knapp. Auf einem Balkon weiter oben streckt uns ein kleines Mädchen die Zunge raus und zwei Mittelfinger entgegen.

Die Göttinger kennen ihr Iduna-Zentrum, sie lieben und meiden es. 1975 als Schandfleck errichtet, war es in den Achtzigerjahren unter Studenten und Dozenten kurze Zeit beliebt. Danach war es dann wieder Schandfleck. Rund sechshundert Anwohner sind hier offiziell gemeldet, doch tatsächlich leben hier schätzungsweise über siebenhundert Menschen. Eventuell aber auch nur hundertfünfzig, das wisse niemand so genau, so Köhler. Drogenhandel, Totschlag, illegale Hahnenkämpfe – die Liste der Vergehen ist lang. Ob sie auf das Iduna-Zentrum zutrifft, ist schwer zu sagen, da hier schon lange niemand mehr verkehrt, der hier nicht wohnt.


"Ein Hauch von Pariser Vorort – mitten in Göttingen!", gerät Köhler ins Schwärmen. Etwas bewegt sich hier in Südniedersachsen. Es wurde auch Zeit. Die Geschichten vom akademischen Glanz vergangener Tage – wer will sie noch hören? Welcher Kult-Professor einst betrunken in den Leinekanal fiel und wer alles eine Bumsbeziehung mit Jürgen Trittin hatte, interessiert hier schon lange niemanden mehr. "Mag sein, dass auf dem Göttinger Friedhof mehr Nobelpreisträger liegen als in Yale, der Sorbonne und Greifswald zusammen, allein das hier, das ist was Handfestes!" Liebevoll tätschelt Köhler die raue Fassade. Ob er gar selbst einmal hier gelebt habe, frage ich ihn. Köhler lacht laut auf: "Nein."

Hier soll der Jurastudent Gerhard Schröder einmal nach allen Regeln der Kunst gezecht haben.

 

Oder war es hier?

Dann wird er nachdenklich. Zwei Wirsinghälften und eine Energy-Dose fliegen an ihm vorbei, während sein Blick in die Ferne schweift: "Marburg hat den Oberstadtaufzug, Tübingen hat Boris Palmer. Aber wir …" Jemand brüllt Unverständliches vom Balkon. Am Ende müsse man als supersmarte, aber eigenschaftslose Mittelstadt jeden Strohhalm greifen, den man kriegen kann. "Den Makel zum Markenkern machen", nennt Köhler das und macht eine Geste, als würde er nach etwas Großem greifen. Er erklärt seine Vision: Goldene Zierleisten sollen außen am Iduna-Zentrum angebracht werden, dazu kleine Waschbeton-Erkertürmchen. "Vielleicht bauen wir eine Orangerie ins Atrium und bieten regelmäßige Kulturveranstaltungen an, Jazz-Matinées auf dem Zwischendach, Kunstausstellungen im Alpenmax, wer weiß!" Mit seiner zentralen Lage werde das Iduna-Zentrum zu dem Residenzschloss, das Göttingen nie hatte, zum "Centre d'Idune".


Und wer soll dann hier residieren? "Na, die gut tausend Anwohner, die es berühmt gemacht haben! Vermutlich sind es aber doch eher dreieinhalb- bis siebzehntausend." Doch zunächst gelte es, die Infektionszahlen in den Griff zu bekommen. "Danach sehen wir weiter." Köhler wirkt erschöpft. Routiniert weicht er einer unmittelbar vor seinen Füßen zerschellenden Wassermelone aus, als wir den Weg zurück ins (ehemalige) Stadtzentrum antreten.

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Anpfiff, Max Eberl!

Sie sind seit Anfang März neuer Sportvorstand des FC Bayern München und treten als solcher in die Fußstapfen heikler Personen wie Matthias Sammer. Bei der Pressekonferenz zu Ihrer Vorstellung bekundeten Sie, dass Sie sich vor allem auf die Vertragsgespräche mit den Spielern freuten, aber auch einfach darauf, »die Jungs kennenzulernen«, »Denn genau das ist Fußball. Fußball ist Kommunikation miteinander, ist ein Stück weit, das hört sich jetzt vielleicht pathetisch an, aber es ist Liebe miteinander! Wir müssen alle was gemeinsam aufbauen, wo wir alle in diesem gleichen Boot sitzen.«

Und dieser schräge Liebesschwur, Herr Eberl, hat uns sogleich ungemein beruhigt und für Sie eingenommen, denn wer derart selbstverständlich heucheln, lügen und die Metaphern verdrehen kann, dass sich die Torpfosten biegen, ist im Vorstand der Bayern genau richtig.

Von Anfang an verliebt für immer: Titanic

 Mmmmh, Thomas de Maizière,

Mmmmh, Thomas de Maizière,

über den Beschluss der CDU vom Dezember 2018, nicht mit der Linkspartei oder der AfD zusammenzuarbeiten, an dem Sie selbst mitgewirkt hatten, sagten Sie bei Caren Miosga: »Mit einem Abgrenzungsbeschluss gegen zwei Parteien ist keine Gleichsetzung verbunden! Wenn ich Eisbein nicht mag und Kohlroulade nicht mag, dann sind doch nicht Eisbein und Kohlroulade dasselbe!«

Danke für diese Veranschaulichung, de Maizière, ohne die wir die vorausgegangene Aussage sicher nicht verstanden hätten! Aber wenn Sie schon Parteien mit Essen vergleichen, welches der beiden deutschen Traditionsgerichte ist dann die AfD und welches die Linke? Sollte Letztere nicht eher – zumindest in den urbanen Zentren – ein Sellerieschnitzel oder eine »Beyond Kohlroulade«-Kohlroulade sein? Und wenn das die Alternative zu einem deftigen Eisbein ist – was speist man bei Ihnen in der vermeintlichen Mitte dann wohl lieber?

Guten Appo!

Wünscht Titanic

 Wussten wir’s doch, »Heute-Journal«!

Deinen Bericht über die Ausstellung »Kunst und Fälschung« im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg beendetest Du so: »Es gibt keine perfekte Fälschung. Die hängen weiterhin als Originale in den Museen.«

Haben Originale auch schon immer für die besseren Fälschungen gehalten:

Deine Kunsthistoriker/innen von der Titanic

 Ach, Taube,

Ach, Taube,

die Du in Indien wegen chinesischer Schriftzeichen auf Deinen Flügeln acht Monate in Polizeigewahrsam verbracht hast: Deine Geschichte ging um die Welt und führte uns vor Augen, wozu die indische Fashion-Polizei fähig ist. Aufgrund Deiner doch sehr klischeehaften Modetattoos (chinesische Schriftzeichen, Flügel) fragen wir uns aber, ob Du das nicht alles inszeniert hast, damit Du nun ganz authentisch eine Träne unter dem Auge oder ein Spinnennetz auf Deinem Ellenbogen (?) tragen kannst!

Hat Dein Motiv durchschaut: Titanic

 Apropos: ¡Hola bzw. holla, spanischer Priester!

Du hast Dir die Worte aus dem Matthäusevangelium »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« zu sehr zu Herzen genommen und in Deiner Gemeinde in der Kleinstadt Don Benito einen regen Handel mit Potenzmitteln betrieben. Für diesen nach weltlichem Ermessen offensichtlichen Sündenfall musst Du Dich nun vor einem irdischen Gericht verantworten.

Uns ist zwar nicht bekannt, ob Du Dich gegenüber Polizei und Justiz bereits bußfertig gegeben hast oder weiterhin auf das Beichtgeheimnis berufst. Angesichts der laut Zeugenaussagen freudigen Erregung Deiner überalterten Gemeindemitglieder beim Geläut der Glocken sowie ihres Durchhaltevermögens bei den nicht enden wollenden Eucharistiefeiern inklusive Rumgeorgel, Stoßgebeten und orgiastischer Gottesanrufungen sprechen alle Indizien aber ohnehin gegen Dich!

Bleibt auch ganz ohne künstliche Stimulanzien weiter standfest im Nichtglauben: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
19.04.2024 Wuppertal, Börse Hauck & Bauer
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt