Müters Söhne #12
Fußball
"Ich empfinde keine Freude dabei, einem Ball nachzulaufen"
Gideon ist 17 Jahre alt. Seine Mutter Viola Müter schreibt hier im wöchentlichen Wechsel über ihn und ihre anderen zwei Söhne im Alter von 5 und 12 Jahren. Die Mutter nennt sie liebevoll ihre "Mütersöhnchen".
Gideon strafte mich mit einem bösen Blick, als seine letzten Geburtstagsgäste das Haus verließen. "Wenn du anständig wärst, würdest du jede Person in einem persönlichen Brief um Vergebung bitten." Zwar belustigte mich, dass Gideon Briefe immer noch allen anderen Kommunikationsmitteln vorzog. Er griff sogar zu Kalligrafie-Set und Siegelstempel, wenn er einen Zahnarzttermin absagte. Allerdings kränkten mich seine Worte auch. Ich hielt sie für unangemessen. Ich hatte lediglich versucht, mit ihm und seinen Freunden Fußball zu schauen.
Immer wieder wird mir unterstellt, ich würde Gideon benachteiligen. Um den Vorwurf ein für alle Male aus dem Weg zu räumen, organisierte ich ihm zu seinem Geburtstag eine Überraschungsparty. Es stimmt, dass Gideons und meine Beziehung etwas unterkühlt ist. In Wahrheit ist sie das seit zehn Jahren. Den Schuh müssen wir uns jedoch beide anziehen. Genauer gesagt den Stollenschuh. Mit sieben Jahren hängte Gideon nämlich seine Fußballkarriere an den Nagel. Ich wollte immer nur das Beste für Gideon. Was in meinen Augen bedeutete, dass er der beste Fußballspieler aller Zeiten werden sollte.
"Ich möchte aufhören. Ich empfinde keine Freude dabei, einem Ball nachzulaufen", stellte mein Sohn mich nach einem Training vor vollendete Tatsachen. Damals war ich noch jung und wollte meine Kinder zu nichts zwingen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich nie verkraftet, dass er einfach nur keine Lust mehr hatte. Ich wünschte, er hätte einen triftigen Grund gehabt. Eine Knieverletzung mit mehreren komplizierten Operationen zum Beispiel. Ich habe von jungen Leuten gehört, dass man mit so einer Geschichte zudem gut flirten kann. Ich nehme mir vor, sie mal in einer Disco auszuprobieren.
Als Gideon realisierte, dass ich alle seine Freunde eingeladen hatte, warf er mir zum ersten Mal seit Jahren wieder ein Lächeln zu. Mein erster Gedanke war, dass ich ihm sein Kalligrafie-Set wegnehmen sollte, damit er seine Zahnarzttermine nicht mehr absagt. Vor allem aber fühlte ich mich in diesem Moment hoffnungsvoll. Hoffnungsvoll, dass Gideon wertschätzte, dass ich über meinen Schatten gesprungen war. Dass er mir entgegenkommen würde. Heute schäme ich mich für meine Naivität.
Die Party fand zur gleichen Zeit statt wie das EM-Vorrundenspiel Spanien gegen Italien. Ein Spiel, das ich gerne zusammen mit Gideon schauen wollte. Schon nach zehn Spielminuten wurde ich des Wohnzimmers verwiesen. Ich kann am Ende gar nicht mehr sagen, ob ich oder jemand von Gideons Freunden "Könnt ihr nicht einmal die Schnauze halten?" gerufen hat. Ich erinnere mich nur, dass mich ihr lautstarkes Gespräch über Moselwein wahnsinnig machte. Ich verfolgte das Spiel später auf meinem Handy. Bei jedem Ballkontakt des 16jährigen Spaniers Lamine Yamal weinte ich leise Tränen. Das hätte Gideon sein können. Er hat die Chance verpasst, sich zu entschuldigen.
Die Kolumne von Viola Müter erscheint jeden Donnerstag nur bei TITANIC.
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