Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Zum besseren Verständnis
Mein vornehmster elterlicher Ehrgeiz ist, keinen elterlichen Ehrgeiz zu entwickeln, und doch denke ich manchmal, dass „Rainer Werner“ sehr gute, distinktorisch wertvolle Vornamen gewesen wären, zumal bei einem zweisilbigen Familiennamen auf -er, und schließlich heißen deutsche Serienschauspielerinnen auch nicht Liv Fries, sondern Liv Lisa Fries, wenn sie, zum Staffelstart von „Babylon Hauptstadt“, über das „Interesse an der Vergangenheit“ reden: „Wenn ich zum Beispiel mit meiner Oma rede, versuche ich immer zu verstehen, warum sie so denkt, wie sie denkt. Das ist eine Generationenfrage. Ich glaube, es geht um Bewusstsein und Reflexion darüber, was Menschen schon erlebt haben und was unsere Gesellschaft zu dem macht, was sie ist.“
Ihr Film- und Interviewkollege heißt vorbildlich profan Volker Bruch und kommt von Oma auf Opa: „Das war früher auch sein ,Jetzt’, und alles war irgendwie normal. Und deswegen interessiert mich, wie das, was für mich Geschichte ist, für die Menschen damals Realität war. Wenn man überlegt, warum junge Menschen die Entscheidungen treffen, die sie eben treffen, sieht man: Es sind immer auch gesellschaftliche Umstände, die zu etwas führen. Ein gesellschaftlicher Umstand, eine gesellschaftliche Not, die sich ein Ventil sucht. … Auch wenn viele Menschen heute auf diese Zeit blicken und sagen: Wie konntet ihr damals nur!“ Der Interviewer vom Morgenblatt hat verstanden, grad weil er weiß, dass es sich bei Fries und Bruch um „politische Menschen“ handelt: „Ein Urteil aus unserer heutigen gesellschaftlichen Situation wirkt da schnell anmaßend, weil man einfach nicht in den Schuhen der Menschen damals steckt.“ Und Bruch so: „Ja, genau.“ Und Fries so: „Das finde ich immer so interessant, weil man sich selbst ja nie gesellschaftlich oder geschichtlich einordnet, sondern immer nur im Jetzt ist, alleine mit seinen Problemen. Man ordnet sich nie in einen gesellschaftlichen Zusammenhang ein. Weil man immer nur diese eine Person in diesem einen Moment ist.“
„You'll stumble in my footsteps / Keep the same appointments I kept /
If you try walking in my shoes / Try walking in my shoes“ Depeche Mode, 1993
Gern will ich Liv Lisa Fries gelegentlich ein Bier ausgeben dafür, diesen Umstand tatsächlich „interessant“ und nicht saudummdoof „spannend“ gefunden zu haben; aber wen meint sie so verständnisvoll mit „man“? Den Schwimmbadkursvater, der, während sein kleiner Sohn unter seiner Aufsicht duscht, das Handy in der Hand hat? Die Schwimmbadkurseltern, die jede Woche wieder die Notfallplastiksäcke über die Turnschuhe ziehen, weil sie keinen Bock auf Badelatschen haben? Alle anderen, die sich nicht gesellschaftlich einordnen, sondern im Ruheabteil quatschen, den Q7 auf die Sperrfläche stellen und ihre Köter den Bürgersteig vollscheißen lassen? Oder doch diese Personen in diesem einen Moment, die, weil sie ein Ventil brauchen, Trump oder Orbán oder Höcke oder Hitler wählen?
Um Gerhard Polts Jahrhundertsatz zu variieren: Wer ist „man“? Ich nicht; und aber jedenfalls triftig, dass sich Bundespräsident Steinmeier in Yad Vashem schon wieder ausführlich für deutsche Verbrechen entschuldigt hat. Das kann er auch, denn die Verbrecher sind tot, die Überlebenden beinah sämtlich auch, und die Jungen ordnen sich gesellschaftlich oder geschichtlich nicht ein, sind immer nur im Jetzt, alleine mit ihren Problemen, und wollen sich keine Urteile mehr anmaßen, es sei denn, einer ist nicht vegan, da hat sich des Veganers Bruch alte Sichtweise, „dass jeder es so machen soll, wie er will“, geändert, und das lesen wir dann auch gefettet („Da hat sich meine Sichtweise geändert“). Weil, sein Opa, der musste letztlich Hitler wählen, aber heute, da muss man nicht mehr müssen, sondern macht sein Ding, und Spätere werden hoffentlich nicht so anmaßend sein, kein Verständnis zu haben.
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