Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Drama, Baby
Der neue Duden ist da, in der 26. Auflage, und in meiner überregionalen Qualitätsmorgenzeitung beschwert sich ausgerechnet die Wirtschaftsredaktion über dessen „Ökonomisierung“: „Die neue Auflage enthält 5000 neue Wörter: Erschreckend viele haben wirtschaftlichen Hintergrund“, womit die Wirtschaftsredaktion nicht nur „Schuldenbremse“ und „Zockerpapiere“ meint, sondern seltsamerweise auch „E-Bike, Social Media oder Shitstorm“; wie eine Wirtschaftsredaktion doch auch froh sein müßte, wenn die Praktikantin „Fiskalpakt“ nachschlagen kann. Allein: „Politische und gesellschaftliche Entwicklungen wie die Jasminrevolution oder der Wutbürger werden an den Rand gedrängt“, an den Rand vom Duden nämlich bzw. über dessen Rand sogar noch hinaus, weil sie wohl nicht drinstehen, die Entwicklungen, oder nur irgendwo am Rand halt, wie immer das ausschaut. „Der Duden war immer ein Spiegel seiner Zeit. Was sagt es aus, daß er in den vergangenen Jahren zunehmend ökonomisiert wurde? In welchen Zeiten leben wir eigentlich?“
Das ist für eine Wirtschaftsredaktion keine ganz unerstaunliche Frage, und wir möchten sie dahingehend beantworten, daß wir in Zeiten leben, in denen Leute mit Abitur und Hochschulstudium ihre Muttersprache nicht einmal dann beherrschen, wenn sie ein Journalistendiplom besitzen und sich als Sprach- und Ideologiekritiker aufführen.
„Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas dazu zu tun hat, und die Form ist ein Geheimnis den meisten.“ Goethe, 1826
Daß die 26. Duden-Auflage „seit dieser Woche käuflich erhältlich“ ist, mag noch als verholpert-redundantes Einzelhandelsdeutsch durchgehen, aber daß sich im frischen Band „vier übergreifende Trends“ sollten feststellen lassen, wird nur der glauben, der das inhärent Übergriffige eines Trends nicht verstanden hat. „Erstens haben viele neue Wörter damit zu tun, daß sich der Siegeszug des Internet in den vergangenen vier Jahren dramatisch verschärft hat“ – was für eine Sprache soll das sein? Deutsch ist es nicht, denn die „neuen Wörter“ können nicht „damit zu tun haben“, daß die Bedeutung des Internets noch einmal gewachsen ist, sondern ihre Aufnahme hat damit zu tun, daß es seit der 25. Auflage mehr Internet gibt, mit seinem „Siegeszug“ also, auch wenn Zweifel erlaubt sind, daß ein solcher sich „dramatisch verschärfen“ kann. Schön, aus „scharf“ und „dramatisch“ setzt meine Morgenzeitung (das hat sie, wie viele andere, von Spiegel online) längst 50 Prozent ihrer Mitteilungen zusammen, das genauso unvermeidliche „massiv“ eingerechnet, sind es wahrscheinlich 80, aber kann ein Siegeszug, wie Löwensenf extra oder ein gutes Chili, dramatisch scharf sein? Und wenn er es könnte – einem Sowjetbürger des Jahres 1941 mag der deutsche Siegeszug sich womöglich wirklich als sich von Tag zu Tag verschärfendes Drama dargestellt haben –, ist dann gemeint, daß das Internet Hitler ist? Weil es dem Duden eine „ungeheure Zunahme englischer Wörter“ beschert, nämlich, bei brutto 5000 Neueinträgen auf 500 000 Lemmata, deutlich weniger als ein Prozent des Bestandes? „Drittens spielen die Finanzkrise und die europäische Schuldenkrise eine entscheidende Rolle“, wenigstens das stimmt, denn ohne die entscheidende Rolle von Finanz- und Schuldenkrise wäre „Schuldenbremse“ ja nicht drin im Duden, auch wenn, noch einmal, bei ein paar Promill Neuwortanteil die Rolle nicht gar so entscheidend sein kann, es sei denn, wir akzeptieren, daß es ohne Drama und Schärfe und Entscheidung und Krach halt wirklich nimmer geht, also von vornherein nicht, hirnmäßig.
„Was sagt es aus, daß er“, der Duden, „in den letzten Jahren zunehmend ökonomisiert wurde?“ Das sagt aus, daß alles in den letzten Jahren zunehmend ökonomisiert wurde, nicht zuletzt die Sprache unserer Journalisten, die im Sinne schlanker Produktion aus immer weniger Fertigteilen besteht, damit sie dem geneigten Publikum noch geschmeidiger in den Kopfschwamm fahren kann, auf daß, gerade am Bildungsstandort Deutschland, alles doppelplussupergut werde.
Ein Drama, fürwahr.
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